Der Samstag ist die Hölle. Wahrscheinlich ist Vollmond. Die Kunden in der Apotheke machen mich fertig. Eine Frau will Hustensaft für ihren Hund kaufen. Beim Tierarzt habe sie auf die Schnelle keinen Termin bekommen, und Husten sei ja irgendwie Husten – ob auf zwei Beinen oder vier Pfoten. Eine Mutter beschwert sich lauthals über unsere Läusekur. Die würde gar nicht helfen. Als ich sie frage, ob sie die Lösung auch nach Vorschrift einwirken lassen würde, guckt sie mich nur gross an. Was ich mit Einwirken meine? Ein Vater kommt mit seinem kleinen Sohn. Der hat offenbar zwei von Papis Energydrinks getrunken und ist ziemlich aufgedreht. Sein Vater will nun tatsächlich Beruhigungstropfen für ihn. Ich empfehle einen sehr langen Spaziergang. Nach so einem Vormittag bin ich froh, dass ich ausnahmsweise um zwei Uhr Feierabend habe. Ich gehe direkt zum Kebab-Haus, bestelle einen Hamburger UND ein Bier.
Malik schaut mich besorgt an.
«Du trinkst am Nachmittag ein Bier?»
«Ich arbeite in einer Apotheke und brauche das jetzt einfach als Medizin.»
Ich nehme einen grossen Schluck und schliesse kurz die Augen.
«Ah, das tut gut.»
Zwei Mädels setzen sich an den Nebentisch. Ich kann gar nicht anders als ihnen zuzuhören. Der Wahnsinn geht weiter. Bei den Girls ist alles «mega nice». Das Auto, das vorbeifährt, der neue Nagellack, das Wetter.
Als Malik mir den Burger bringt, setzt er sich kurz zu mir.
«Was ist gegen das Wort ‹schön› einzuwenden?», frage ich ihn. «Wieso muss alles plötzlich englisch sein?»
Er zuckt mit den Schultern.
«Chill mal, Bro», lacht er nur.
Der Laden brummt, und er muss wieder hinter die Theke. Ich geniesse jeden Bissen und jeden Schluck.
«Hoi, Süsse, könntest du morgen ab 15 Uhr wohl nochmal als Alibi herhalten? So drei Stunden müssten reichen. 1000 Dank, Anna», erscheint plötzlich auf meinem Telefon.
«Okay», schreibe ich nur und weiss, dass ich am Sonntag wohl mal wieder ins Sommertal radeln muss.
Malik erscheint mit einem Teller vor mir.
«Die Mama vom Chef hat Baklava gemacht. Hier für dich.»
«Ich habe gerade einen Burger und eine Portion Pommes gegessen. Da passt jetzt gar nichts mehr rein.»
Ich schmachte die Baklava an.
«Könntest du sie mir nicht einpacken? Dann esse ich sie heute Abend.»
«Nur, wenn du mir deine Nummer gibst.»
Er lächelt. Schüchtern oder verwegen? Ich kann es nicht deuten. Ich schreibe sie auf einen Bierdeckel, halte ihm den hin. Als er danach greifen will, ziehe ich schnell zurück.
«Erst einpacken.»
Gut gelaunt mache ich mich auf den Heimweg. Liegt bestimmt an dem leckeren Essen.
Ich laufe in meiner kleinen Wohnung hin und her. Habe plötzlich viel zu viel Energie. Ich muss irgendwas machen. Im Netz gucke ich nach Veranstaltungen. In der Oberen Mühle ist ein Konzert. Gitarrenpop. Klingt nicht schlecht. Ist aber schon ausverkauft. Das Kinoprogramm ist wie immer im Sommer doof. Ausserdem ist es noch viel zu warm, um drinnen zu sitzen. Ich schnappe mir meine Badetasche. Ein kleiner Veloausflug mit Abkühlung im Greifensee ist jetzt gut.
Ich mache mich auf zum Badeplatz in Fällanden. Ein paar hundert Meter davor sehe ich Annas Cabrio stehen. Ist sie auch zum Baden hier? Ich lasse mein Rad ins Gras fallen und gehe in Richtung See. Ich höre sie, bevor ich sie sehe.
Sie streitet sich mit einem Mann – auf Italienisch. Um was es geht, kann ich natürlich nicht verstehen. Aber, dass das ein Streit ist, ist klar.
Wie passt das alles in Annas Geschichte?
Irgendwas stimmt doch hier nicht. Ich bekomme plötzlich eine Gänsehaut. Auf Schwimmen habe ich definitiv keine Lust mehr. In Gedanken versunken, fahre ich heim. Und die ganze Zeit habe ich das Gefühl, dass mich irgendetwas an Annas Geschichte stört. Wie ein falscher Ton in einem Lied. Ist es wirklich eine gute Idee, ihr so viel Geld zu geben?
Wie dem auch sei: Ich muss der Sache auf den Grund gehen.
Keine Ahnung, warum ich auf einmal denke, ich bin Miss Marple.
* * * * *
Immerhin ist es am nächsten Tag nicht mehr so heiss, und ich bin nicht völlig verschwitzt, als ich am Hotel ankomme. Kurz vor vier Uhr, Anna müsste also längst hier sein. Ich stelle mein Rad in den Ständer am Innenhof und betrete schnell den Personaleingang. Ich komme an einem Spiegel vorbei und stelle fest, dass ich grässlich aussehe. Ich habe letzte Nacht fast nicht geschlafen.
Ich gehe mal rechts, mal links und habe keine Idee, wie ich Anna hier finden soll. Das Hotel ist viel grösser, als ich gedacht hatte.
Als zwei Zimmermädchen mit einem grossen Wagen voller Schmutzwäsche um die Ecke kommen, biege ich sofort ab, warte. Als sie vorbei sind, gehe ich wieder auf den Gang. Genau in dem Moment linst auch Anna auf den Flur. Als hätte sie in dem Zimmer genauso gewartet, dass die beiden weg sind. Sie erschrickt, als sie mich sieht.
«Was machst du hier?», zischt sie mich an.
«Was machst DU hier?», frage ich kühl. Warum versteckt sie sich, wenn sie hier doch arbeitet? Sie kommt auf mich zu, und ehe ich mich versehe, hat sie mich in das Doppelzimmer gezerrt.
«Herrgott, Corinne. Du machst nur Ärger. Was willst du hier?»
Genau in dem Moment fällt mir auf, was nicht stimmte. Was der falsche Ton war. Wie konnte sie damals am Erdbeerfeld so viel Trinkgeld geben, wenn Ulrich sie so kurzhält? Wie konnte sie mir so teure Ohrringe schenken? Das passt doch nicht.
Ich gucke mich um und registriere, dass der Kleiderschrank in dem Zimmer geöffnet ist. Blusen und Anzüge hängen da. Und der Zimmersafe steht offen.
Ganz langsam gucke ich zu Anna.
«Du bestiehlst hier die Hotelgäste?»
«Meinst du wirklich, ich klaue nur Erdbeeren?»
Sie lacht hart und gemein.
«Du hast wirklich geglaubt, ich lasse mich von so einem langweiligen Autoverkäufer an der kurzen Leine halten? Du wirst lachen. Ulrich hat das wirklich versucht. Erst hat er mir tatsächlich vorgeschlagen, arbeiten zu gehen. Als ich das kategorisch abgelehnt habe, meinte er, dass ich dann nicht mehr so oft an der Bahnhofstrasse shoppen gehen könne. Was dachte er denn, warum ich mir einen Schweizer Ehemann angelacht habe? Also habe ich angefangen, seinen Familienschmuck ins Pfandleihhaus zu bringen. Tja, als der weg war, brauchte ich eine neue Quelle. Und wo findet man die? In den Zimmersafes von Hotels. Ich habe vor vielen Jahren hier wirklich geputzt. Ich habe die Klos geschrubbt und den Dreck weggemacht. Ich habe da viel gelernt. Zum Beispiel, dass es einen Code gibt, mit dem sich jeder Safe wieder öffnen lässt. Ein paar nette Augenaufschläge beim Concierge, und du hast ihn. Geht nicht nur hier so. Ich war schon in einigen Hotels. Es funktioniert immer. Und die Hotels ersetzen brav das Geklaute. Soll sich doch unter den Gästen nicht rumsprechen. Ein hervorragendes Geschäft. Bis du kamst und einfach ein bisschen zu lieb und zu neugierig warst.»
Dass sie danach zur Weinflasche ihm Kühler greift, sehe ich nur im Ansatz. Dann wird es dunkel.
Mein Schädel brummt, als ich wieder zu mir komme. Ich liege auf dem kalten Boden eines dämmrigen Raums. Meine Hände sind hinter meinem Rücken gefesselt. Ich zittere am ganzen Körper. Draussen höre ich Anna.
«Verstehst du nicht? Die doofe Kuh da drin ist ein Geschenk. Wir legen sie in mein Auto und zünden es an. Es wird wunderbar lodern und brennen. Und wer ist dann darin verbrannt? Anna Reinhardt natürlich. Dein Freund, der Fälscher, wird mir eine neue Identität verschaffen. Und in ein paar Wochen melden wir uns von den Malediven bei dem blöden Ulrich und verlangen die Hälfte meiner Lebensversicherung. Wenn er nicht zahlt, geben wir der Versicherung einen kleinen Tipp, dass ich gar nicht tot bin, dann bekommt er auch nichts. Und dafür ist er dann doch zu geldgierig.» Sie lacht kalt.
«Es war also doch gut, dass ich dieses Mauerblümchen kennengelernt habe.»
Ich beisse mir auf die Unterlippe. Tränen kullern über meine Wangen. Plötzlich wird die Tür aufgerissen. Anna stapft herein.
«Dein Handy klingelt fast ununterbrochen. Jetzt ist eine Nachricht eingegangen. Los, entsperre das Teil mal. Ich will wissen, wer dir was schreibt.»
Sie hält mir das Smartphone vors Gesicht, und die Nachricht ploppt auf.
«Alles in Ordnung??? Ich mache mir Sorgen. Malik.»
«Einen Lover, der dich jetzt sucht, kann ich nicht gebrauchen. Los. Was soll ich antworten? Was würdest du antworten?»
«Schreib: Alles nice.»
«Alles nice?»
Malik starrt auf die beiden Worte und weiss sofort, dass irgendetwas überhaupt nicht in Ordnung ist. Er schnappt sich seinen Elektrotöff und fährt zu Corinnes Wohnung. Er klingelt Sturm, wundert sich aber nicht, dass niemand öffnet. Immerhin steht auch ihr Mädchenfahrrad nicht im Veloständer neben dem Haus.
Malik holt erneut sein Handy raus. Einen Versuch ist es wert. Er geht auf die Standortsuche und tatsächlich: Corinnes Smartphone wird angezeigt. Grinsend schüttelt er den Kopf. Wie kann man nur so leichtsinnig sein? Aber nun freut er sich natürlich darüber. Corinne ist offenbar in der Nähe der Burgruine am südlichen Stadtrand. Sitzt sie da nur gemütlich im Gras und hat einfach keinen Bock auf ihn? Er holt alles aus dem E-Roller raus, und es ist ihm völlig egal, ob da jetzt gerade eine 30er-Zone ist. Er gibt Vollgas und ist knapp zehn Minuten später am Fuss der Ruine. Da parkieren ein Mercedes-Cabrio und ein Pick-up – mit Corinnes Velo auf der Ladefläche. Als ein Mann aus einem unscheinbaren Schuppen kommt und beginnt, Benzin aus einem Kanister auf das Cabrio zu kippen, wählt Malik die Nummer der Polizei.
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Festnahme nach versuchtem Mord
DÜBENDORF. Am gestrigen Nachmittag konnte die Stadtpolizei Dübendorf einen kaltblütigen Mord verhindern. Als die Beamten aufgrund eines Notrufs am Tatort in der Nähe der Burgruine Dübelstein ankamen, konnten sie eine entführte weibliche Person retten, die mutmasslich von einem Paar mitsamt einem Auto verbrannt werden sollte. Bei dem Paar wurde zudem Diebesgut sichergestellt. Die zwei Beschuldigten wurden in Untersuchungshaft genommen. Die entführte Frau erlitt leichte Verletzungen.
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Anna und ihr Komplize sind schon mit Blaulicht abtransportiert worden. Ich zittere immer noch am ganzen Leib. Malik legt mir den Arm um die Schulter.
«Komm. Wie wäre es mit einem Stück Erdbeerkuchen mit Schlagrahm?»
Ich starre ihn entsetzt an.
«Erdbeeren? Bloss nicht. Mit denen hat doch alles angefangen.»