Diesmal geschah es am Züri-Fäscht, zweimal, einmal am helllichten Tag und dann am Abend, als es schon dunkel war. Eine Gruppe von 30 bis 40 Personen griff einen Stand der Grasshoppers an, pöbelte, sprühte Pfefferspray und warf Tische und Bänke. Beim ersten Vorfall waren viele Kinder vor Ort, junge GC-Fans, sie holten gerade Autogramme von den Fussballerinnen des Vereins.
GC-Mitarbeitende und -Fans beobachteten, dass die Gruppe der Angreifer dem Umfeld der Fanszene des FC Zürich zuzuordnen ist. Die Stadtpolizei bestätigt das. GC hat Anzeige gegen unbekannt erstattet. Vizepräsident Andras Gurovits spricht von einem feigen Angriff, der ihn traurig und sprachlos stimme.
Eine Attacke beim grössten Schweizer Volksfest, mitten am Nachmittag – eigentlich unvorstellbar. Maurice Illi sagt trotzdem: «Ich habe zwar stark gehofft, dass es nicht passiert, aber es hat mich nicht überrascht.» Illi ist Soziologe mit Spezialgebiet Hooliganismus. Für ihn passt der Angriff zur Entwicklung, die die Fangewalt in Zürich in den letzten Jahren genommen hat.
«Das versteht ausserhalb dieser kleinen Welt niemand»
Der Zürcher Rapper MC Hero, ein FCZ-Anhänger und einer der Gründer der Fangruppe Lochergut-Jungs aus Zürich-Wiedikon, erzählte im Magazin «Republik» kürzlich: «Nach jedem Spiel suchten wir früher Kontakt mit den anderen Ultras, griffen sie an, vor allem die Ultras der Grasshoppers. Die haben wir regelmässig durchs ganze Quartier gejagt.» Verhaftet worden sei kaum jemand.
Er sagt auch: «Das versteht ausserhalb dieser kleinen Welt niemand. Das ist vielleicht aber auch ein bisschen egal.»
Was der Rapper beschreibt, ist kein neues Phänomen. Prügeln, Zündeln, Pöbeln, Hooligan gegen Hooligan, 30 gegen 30 auf einer Wiese oder sonst wo, vor oder nach Spielen. So ist das schon lange, die Fankurven der Zürcher Clubs gehören in der Schweiz zu den aktivsten der Szene. Gleichgesinnte unter sich.
Aber was ist, wenn Mütter ihren Söhnen im Tram das GC-Leibchen ausziehen müssen, weil sie erfahren, dass am Hauptbahnhof eine Fangruppe des FCZ ankommt? Wenn ein FCZ-Fan beim Warten auf den Bus überfallen wird? Wenn Kinder auf dem Pausenplatz schikaniert werden, weil sie ein Logo auf ihrer Kleidung tragen, das den älteren Schülern nicht gefällt?
Dann hat der Fussball ein Problem. Dann hat Zürich ein Problem.
Als 2008 die Europameisterschaft in der Schweiz und in Österreich stattfand, mussten neue Stadien und neue Sicherheitsvorkehrungen her. Sektoren wurden getrennt, Pyros galten plötzlich nicht mehr als Ausdruck der Freude, sondern als Verstoss gegen das Sprengstoffgesetz. Es gab Videokameras, Drehkreuze und separierte Anfahrtswege. Konnten sich Gewaltbereite in den 90er-Jahren noch im Stadion prügeln, war das nun nicht mehr möglich. So versammelten sie sich eben draussen und schlugen sich.
Ein praktisch exklusives Zürcher Phänomen
Neu sind Gewalttaten oder -androhungen gegenüber Personen, die nicht zu einer Gruppierung gehören, die selbst Gewalt ausübt. Gemobbte Kinder, verprügelte Familienväter, bedrohte Normalos – das sind keine erfundenen Schreckensszenarien. Das spielt sich derzeit so ab, in der Stadt, wo die Anhänger des FCZ die Oberhand haben. Und in den Gemeinden der Agglomeration, wo das Kräfteverhältnis teilweise umgekehrt ist, wo «GC-Gebiet» ist.
Es gibt kleine Gruppen in den Fanszenen, für die keine Hemmschwelle mehr existiert. Denen es egal ist, dass die von ihnen angegriffenen Menschen nicht Teil der gewaltbereiten Szene sind. Und denen es genauso egal ist, ob ihr Team an diesem Tag überhaupt Fussball spielt. «Unbeteiligte wurden plötzlich zu Beteiligten gemacht», sagt Illi.
In der Schweiz gibt es dieses Phänomen praktisch exklusiv in Zürich. In keiner anderen Schweizer Stadt treffen zwei derart grosse und für den Schweizer Fussball wichtige Vereine aufeinander. Einer der Clubs wurde im letzten Jahr Meister und gab einmal ein Buch heraus mit dem Titel «Eine Stadt, ein Verein, eine Geschichte», angelehnt an ein Südkurven-Lied, in dem es heisst: «Ei Stadt, ein Verein, i eusere Stadt gitts nur ein Verein.» Der FCZ ist in der Stadt präsent, mit Fanshop und Museum, der Letzigrund im Kreis 9 ist seine Heimstätte. Das Wachstum seiner Kurve ist seit den Meistertiteln in den Nullerjahren enorm.
Der andere Verein kämpft um seine Identifikation und wird von China aus geführt. Er ist nach Niederhasli gezogen, trainiert nicht mehr in Zürich, hat seit bald 16 Jahren kein eigenes Stadion mehr und so zumindest in der Stadt den Bezug zu seiner Basis verloren. Anders als dem FCZ schadete den Grasshoppers der zwischenzeitliche Abstieg 2019. Die Zuschauerzahlen sind seither noch tiefer. Aktionen wie ein Stand am Züri-Fäscht sollen gegensteuern, man will GC wieder zu den Leuten bringen, die ganze Breite des polysportiven Clubs präsentieren.
Gemein ist den beiden Rivalen, dass ihre Fankurven in letzter Zeit jünger geworden sind. «In einer Kurve gab es immer erfahrene Exponenten, die sagten, was gemacht wird, und es gab Jüngere, die das umsetzten, auch im positiven und kreativen Sinn», sagt Illi. Heute sei zu beobachten, dass gerade in der Südkurve mehr Personen nachrückten, als die Alteingesessenen kontrollieren könnten oder wollten, auch weil sich ihre Prioritäten verschoben hätten.
«Jung, wild und männlich»
Fankurven sind auch Jugendtreffs. Teenager bezahlen keine 60 Franken für ein Ticket auf der Haupttribüne, sie gehen für 20 bis 25 Franken in die Kurve, haben eine gute Zeit, trinken Bier, erleben Emotionen. Einige kommen in Kontakt mit dem harten Kern, jenen, die in der Szene einen gewissen Status haben. Sie werden Teil einer Gemeinschaft und dürfen bei Choreografien mithelfen. Auswärtsfahrten sind Highlights. Derzeit zieht dieser Freiraum ohne Konsumzwang auch viele junge Frauen an.
Aber es gibt sie eben auch, die Klientel, die von der Möglichkeit angezogen wird, Gewalt auszuüben. Wirklich zu charakterisieren sind diese Jugendlichen nicht, sagt Illi. «Jung, wild und männlich», das treffe es am ehesten. Meist sind sie jünger als 25, sie steigen in der Hierarchie schneller auf als ihre Vorgänger, die Ehrenkodexe von einst kennen sie nicht, oder sie interessieren sie schlicht nicht mehr. Tabus wie das Treten gegen am Boden liegende Personen oder das Mitbringen von Waffen wie Schlagringen oder Eisenstangen gelten nicht mehr überall.
Es werden nicht alle Delikte gemeldet. Gerade in Fussball-Fankreisen wird oft auf eine Anzeige verzichtet.
Stadtpolizei Zürich
Prügeleien ziehen nur selten juristische Konsequenzen nach sich, weil die Täter Teil einer Masse sind und die Geschädigten aus Angst vor weiteren Repressalien keine Anzeige erstatten – oder bei Offizialdelikten die Aussage verweigern. Auf Anfrage schreibt die Stadtpolizei Zürich: «Der Stadtpolizei werden nicht alle Delikte gemeldet. Gerade in Fussball-Fankreisen wird oft auf eine Anzeige verzichtet.» Entsprechend schwierig sei es, festzustellen, wie oft Unbeteiligte tatsächlich angegangen würden.
Ein Treiber war zuletzt das Ende der Pandemiemassnahmen. Noch bevor die Jugendlichen in den Ausgang oder an Konzerte gehen konnten, durften sie in die Fussballstadien. Sie bewegten sich wieder in Massen, gehörten dazu, einige vielleicht zum ersten Mal. Sie erfuhren auch das Gefühl von Macht, einige trugen das aus den Stadien in die Stadt – mit der Folge, dass man sich in gewissen Quartieren besser gar nicht erst mit Fanutensilien blicken lässt.
Wenn GC-Sportchef Bernt Haas im Interview mit dieser Redaktion sagt: «Es ist fast eine Mutprobe, in Zürich das GC-Trikot zu tragen», dann ist das keine Floskel. Das Gleiche könnte aber auch FCZ-Präsident Ancillo Canepa sagen, wenn er in die Agglomeration blickt, dort ist das Verhältnis oft umgekehrt.
Zum Beispiel Dübendorf im Glattal, etwas mehr als 30000 Einwohner, GC-Hochburg. Auf Anfrage schreibt die Jugendarbeit der Stadt: «Bereits Schulkinder werden von Fangruppierungen rekrutiert oder bedroht.» Um im Rang aufzusteigen, müssten Kinder Aufgaben erledigen. Das beginnt bei Klebern und Graffiti, kann aber bis zu körperlichen Angriffen führen.
Giacomo Dallo ist Geschäftsführer der Offenen Jugendarbeit Zürich. In den Einrichtungen der Organisation komme es kaum zu Vorfällen, sagt er. Aber er fügt auch an, dass in den Jugendtreffs heutzutage eigentlich nur Teenager zusammenkommen, die sich als FCZ-Anhänger «outen». GC-Supporter sind in der Stadt derart in der Unterzahl, dass sie sich oft nicht als solche zu erkennen geben.
In der Stadt haben Schulen die Möglichkeit, sich an die Fachstelle Gewaltprävention zu wenden. Genauso im Glattal. In Dübendorf beispielsweise wird schon gehandelt. Ab der zweiten Sekundarstufe werden Kinder für die Themen Zivilcourage, Vandalismus und Gewalt sowie zu den strafrechtlichen Folgen sensibilisiert. Sie sind da 13 oder 14 Jahre alt.
Ein gemeinsames Video als verpasste Chance
Wird ein Vorfall öffentlich, folgen die Clubs dem üblichen Muster: Appelle an die Vernunft, Verurteilung von Gewalt – und garantiert ein Hinweis darauf, dass da nur eine Minderheit der breiten Fanschar über die Stränge geschlagen habe. Gerne wird auch der «Dialog» beschworen. Illi findet, gerade das müsse früher geschehen. «Heute gibt es den Austausch nur noch, wenn etwas passiert. Und die, die es verbockt haben, sitzen nicht mit am Tisch.» Die aktiven, aber auch zum Dialog bereiten Fans haften für wenige Gewalttäter.
Je weiter sich die Vorfälle von den Stadien ins öffentliche Leben verschieben, desto machtloser sind die Clubs. Auch darum veröffentlichten die Grasshoppers vor einem Derby im Oktober 2022 ein Video, in dem Captain Amir Abrashi durch die Stadt läuft und erklärt, Gewalt habe im Fussball nichts verloren. Es war eine gelungene Aktion mit einer GC-Identifikationsfigur. Abrashi, sonst ein gut gelaunter Zeitgenosse, der die Menschen zum Lachen bringen kann, war anzusehen, wie wichtig ihm die Botschaft war.
Doch es gab einen Makel: Der FCZ unterzeichnete die Kampagne zwar und trug wie der Rivale ein Trikot mit der Aufschrift «Fuessball ohni Gwalt». Trotzdem tauchte keiner seiner Spieler im Video auf. Gemäss unseren Informationen war dies angedacht, als die GC-Verantwortlichen die Aktion planten.
«Ein Video mit den Captains der zwei Stadtzürcher Clubs wäre sensationell gewesen», sagt Illi, «das schafft Bilder, die sich einprägen und mit denen man arbeiten kann.» Er sei auch begeistert gewesen, als sich FCZ-Präsident Canepa und GC-Vizepräsident Andras Gurovits gemeinsam für das Stadion eingesetzt hätten.
Illi wird immer wieder gefragt: «Prävention oder Repression?» Seine Antwort: «Beides, aber richtig. Wenn Regeln gebrochen werden, müssen die 15 bis 20 Täter gefunden werden.» Allerdings ist ihm hier wichtig zu betonen: «Eine Kurve ist keine dumpfe Masse. Und der Fussballfan ist kein Gewalttäter.»
Wir reden immer von mehr Vielfalt und Akzeptanz in unserer Gesellschaft, aber wenn einer eine bestimmte Kappe anzieht, fällt dieses Denken komplett weg.
Maurice Illi, Soziologe
Die Prävention schliesslich müsse so früh wie nur möglich beginnen. «Wir reden immer von mehr Vielfalt und Akzeptanz in unserer Gesellschaft, aber wenn einer eine bestimmte Kappe anzieht, fällt dieses Denken komplett weg», sagt Illi. Dass Kinder einander schon auf dem Pausenplatz beleidigen und schikanieren, gibt auch ihm, der viel Erfahrung hat, zu denken.
GC-Vizepräsident Gurovits kündigte bereits an, beim nächsten Züri-Fäscht wieder mit einem Stand präsent zu sein. Alles andere sei ein Einknicken, sagt er. Und auch Illi sagt: «Ich begreife jede Person, die sagt, das müssen wir uns nicht mehr antun – aber gebt nicht auf.»