Sie fand es unerträglich. Das Gemotze und Gekeife, mit dem sich linke und rechte Parteien zusetzten. Besonders beeindruckte sie eine Politsendung auf SRF – im negativen Sinn. «Die Juso und die Junge SVP haben sich die ganze Sendung über angeschrien. Jeder vertrat seine Positionen ad extremum, und es ging einzig darum, nicht nachzugeben», erinnert sich Michelle Halbheer.
Es verwunderte und nervte sie gleichermassen. Sie fand, das muss doch auch anders gehen.
Und wie das ging. Michelle Halbheer legte in den letzten sechs Jahren eine steile politische Karriere hin, die im vergangenen April ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte: Die Volketswilerin wurde mit nur 24 Jahren zusammen mit Tina Deplazes nach einer Kampfwahl ins Co-Präsidium der Mitte Kanton Zürich gewählt.
Wenn Halbheer spricht, gibt sie druckreife Sätze von sich. Dabei wirkt sie klar und ruhig, nie wird sie laut oder vehement. Nur ihre Hände, die gestikulieren wie wild. «Ich bin ein lösungsorientierter Mensch. Und ich liebe es, zu diskutieren», sagt sie.
Politisch befindet sie sich eher links von der Mitte, und dennoch fühlt sie sich in der Mitte genau richtig. «Hier ist die Bandbreite an Menschen sehr gross, es sind Ansichten von links bis rechts vertreten.»
Politik am Küchentisch
Jede Position werde zugelassen und ausdiskutiert, aber konstruktiv, erzählt Halbheer und ergänzt: «So finden wir Lösungen, die mehrheitsfähig sind.» Schade sei, dass genau dieses Vorgehen ihrer Partei den Vorwurf einbrocke, farb- und gesichtslos zu sein.
Erstmals mit der Politik in Kontakt kam sie durch ihre Eltern. Diese haben jeweils an den Abstimmungssonntagen am Frühstückstisch mit ihr und ihrem jüngeren Bruder über die aktuellen Vorlagen diskutiert.
Später, im Gymnasium, war Halbheer Teil einer Gruppe, die oft und gerne alle möglichen politischen Themen erörterte. Bald landete sie im Jugendparlament des Kantons Zürich, wo sie im Vorstand mitwirkte.
Mit 16 Jahren schloss sie sich der BDP an und gründete drei Jahre später die Junge BDP Kanton Zürich, die sie gleich präsidierte. In dieser Rolle wirkte sie auch bei der Fusion der BDP und der CVP mit. Die neu entstandene Junge Mitte Kanton Zürich führte sie von Anfang an im Co-Präsidium.
Sie hatte sich in die Arbeit reingekniet und feierte bald erste Erfolge. So wurde zum Beispiel die Initiative zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen im Kantonsrat angenommen. Einstimmig. Das gab es noch nie.
Das Gegenteil von aktivistisch
Halbheer ist nicht nur in der Kantonalpolitik aktiv, sondern auch auf kommunaler Ebene. In Volketswil, wo sie aufgewachsen ist und immer noch wohnt, ist sie seit 2022 Mitglied der Schulpflege. Es ist ihr erstes politisches Amt.
Als sie gewählt wurde, lebte sie noch als Mann. Denn Michelle Halbheer wurde als Junge geboren. Vor zwei Jahren hat sie sich als Transfrau geoutet, änderte ihr Geschlecht und ihren Namen. Ihre Geschichte löste ein grosses Medienecho aus. Gesucht hat sie das nicht.
Aber: «Ich kann mit meiner Geschichte auch zeigen, dass nicht alle queeren Personen stereotypisch aktivistisch und schrill sind.» Deswegen habe sie entschieden, offen darüber zu reden, wenn sie gefragt werde. Sie tut es ganz unaufgeregt und sagt, als Frau leben zu können, mache sie «mega glücklich».
Sie werde oft gefragt, warum sie als Transfrau nicht in der SP sei – der Paradepartei für queere Menschen. Sind ihr LGBTQ-Themen nicht wichtig? «Doch, aber sie gehen alle Parteien etwas an. Und in der Mitte kann ich in dieser Thematik viel mehr bewirken als in der SP», sagt sie. Denn gerade dem rechten Flügel ihrer Partei könne sie mit ihrer Geschichte eine andere Perspektive eröffnen.
Michelle Halbheer ist mit Leib und Seele Politikerin. Doch ebenso viel Leidenschaft steckt sie in ihr Geomatikstudium an der ETH Zürich. «Ursprünglich wollte ich Informatik studieren, aber an der Kanti fand ich Geografie auch sehr spannend.»
Mathematik als Ausgleich
Geomatik vereint beide Themen. Sie hat sich auf die Weltraum-Geodäsie, Vermessungstechniken aus dem oder in den Weltraum, spezialisiert und widmet sich aktuell der Entwicklung selbstlernender Software. Daneben arbeitet sie noch einen Tag für eine Vermessungsfirma als Software-Entwicklerin.
Das Technische, das Mathematische – es liegt ihr ebenso wie das Menschliche an der politischen Arbeit. Ja, sie brauche das sogar als Ausgleich, erzählt sie.
Was sie ebenso braucht, ist, dass immer etwas läuft. «Mir ist langweilig, wenn ich nicht 1000 Bälle in der Luft habe», sagt sie. Jahrelang hat sie winters in den Semesterferien als Skilehrerin gejobbt. Aus Zeitgründen hat sie damit letzte Saison aufgehört, nicht aber mit dem Skifahren.
Sind die Ski versorgt, holt sie das Mountainbike aus dem Keller. Dann ist sie in der Natur und auf Pumptracks anzutreffen, dann gibt sie Fahrtrainings.
Auf den Master folgt das Doktorat
In einem Nebensatz erwähnt sie, dass Volketswil seit Neustem auch einen Pumptrack hat. Federführend beim Projekt: Michelle Halbheer. Zusammen mit ihren Eltern sowie Volketswiler Sportvereinen hat sie 2023 eine Petition lanciert, innert Kürze 800 Unterschriften gesammelt, zahlungskräftige Sponsoren gesucht, das Projekt durch die Instanzen gepaukt und schliesslich zum Fliegen gebracht. Der Pumptrack wird in zwei Wochen eingeweiht.
Für ihre Zukunft hat sie klare Ziele: Im nächsten Sommer will sie den Master machen, und im Anschluss hat sie ein Doktorat in Aussicht. «Ein Doktorat ist normalerweise eine Vollzeittätigkeit. Doch ich bin mit meinem künftigen Doktorvater im Gespräch, dass ich es in Teilzeit machen kann», erzählt sie.
Denn die politische Arbeit will sie natürlich weiterführen. 2027 will sie, im zweiten Anlauf, für den Kantonsrat kandidieren.