Es war eine der Überraschungen bei den letzten Kantonsratswahlen: Im Verbund mit der Freien Liste erreichte Aufrecht Zürich auf Anhieb einen Wähleranteil von über 2 Prozent, also fast 7000 Stimmen. Für einen Sitz reichte es jedoch nicht. Die Liste erreichte weder die 5-Prozent-Hürde in einem Wahlkreis noch die 3-Prozent-Marke im ganzen Kanton. Doch der Achtungserfolg nährte die politischen Ambitionen: Im Herbst tritt die Gruppierung zu den nationalen Wahlen an.
«Aufrecht» entstand während der Corona-Zeit im Oktober 2021 aus Vertretern verschiedener massnahmenkritischer Organisationen. Darunter auch Personen aus esoterischen Kreisen und aus der Verschwörungsszene. Bei den kommenden Nationalratswahlen rechnete die Partei, die sich offiziell als «unabhängige Bürgerbewegung» bezeichnet, gesamtschweizerisch mit zwei bis drei Sitzen.
Doch jetzt scheint es im Kanton Zürich, der grössten und wichtigsten Sektion in der Schweiz, Probleme zu geben. Fünf Bezirksleiter haben rund um die Kantonsratswahlen ihren Posten abgegeben, der neunköpfige Aufrecht-Vorstand des Bezirks Horgen ist geschlossen zurückgetreten und stimmte für eine Auflösung der Sektion. Eine mögliche Nationalratskandidatin hat ihre Kandidatur kurzfristig zurückgezogen.
Wie gehässig der Knatsch bei Aufrecht ausgetragen wird, zeigen Chatprotokolle, Dokumente der Rechtsabteilung von Aufrecht Schweiz sowie das Protokoll der Mitgliederversammlung in Horgen. Die Dokumente liegen dieser Zeitung vor.
Interview führte zu Streit
In der Kritik steht insbesondere Patrick Jetzer, Gründer sowie Präsident von Aufrecht Schweiz und Aufrecht Zürich. Drei ehemalige Bezirksleiter bemängeln seinen angeblich eigenmächtigen Führungs- und Kommunikationsstil. Ihm werden «fragwürdige und nicht reglementierte Vorgehensweisen» beim Austritt eines Bezirksleiters angelastet.
Beim betroffenen Bezirksleiter handelt es sich um den möglichen Nationalratskandidaten aus Bülach, Andi Widmer. Weil er in der Presse Aussagen über eine mögliche Listenverbindung machte, gerieten er und Jetzer sich in die Haare. «Sorry, aber solche Infos gehören nicht in die Zeitung! Das sind Gespräche, die hinter den Kulissen ablaufen», kritisiert Jetzer in einem Chat von Aufrecht Zürich. Widmer dagegen wollte sich von Jetzer nichts vorschreiben lassen.
Darauf eskalierte der Streit, der nach mehrwöchigem Hin und Her damit endete, dass Widmer sein Amt niederlegte und seine Nationalratskandidatur zurückzog. Angeblich habe Jetzer ihn eigenhändig über Nacht aus dem System gelöscht, entgegen den Regeln und ohne den Vorstand zu informieren. Dies führte unter anderem zu den weiteren Rücktritten in Horgen. Auch in Hinwil, Winterthur, Dielsdorf und Andelfingen sind Leitungspersonen zurückgetreten, die für den Wahlkampf von zentraler Bedeutung gewesen wären.
Jetzer weist Kritik zurück
Patrick Jetzer zeigt sich von den Austritten unbeeindruckt: «Wir sind bereit für die Wahlen», sagt der Aufrecht-Präsident auf Anfrage. Die Bewegung habe eine volle Nationalratsliste, und alle Bezirke seien «betreut». Den Vorwurf eines statutenwidrigen Ausschlusses weist er zurück. Widmer habe den Austritt gegeben, das sei an der kantonalen Delegiertenversammlung bestätigt und protokolliert worden.
Für mich persönlich ist Aufrecht gestorben.
André Rüegger, ehemals Aufrecht Winterthur
«Aufrecht ist neu und noch im Aufbau», erklärt Jetzer. Kurz nach der Gründung seien im Kanton Zürich auch schon die Wahlen angestanden. «Wir hatten schlicht noch nicht die personellen und zeitlichen Ressourcen.» Deshalb sei viel Entscheidungsgewalt bei ihm hängen geblieben. Aktuell lege Aufrecht den Fokus auf die Nationalratswahlen. Die Strukturen der Bewegung werde man im Anschluss weiter aufbauen.
«Nach Corona kein gemeinsames Thema mehr»
Die Rücktritte in den Bezirken sind nicht nur dem Streit zwischen Jetzer und Widmer geschuldet. «Die Bewegung hat nach dem Ende der Corona-Massnahmen kein gemeinsames Thema mehr gefunden», sagt André Rüegger, der den Bezirk Winterthur bis nach den Wahlen leitete und bei Aufrecht Zürich im Vorstand war.
Die Top-down-Struktur passe zudem nicht zur massnahmenkritischen Bewegung, die viel auf Gemeinschaft setze, sagt Rüegger. Deshalb habe er alle seine Ämter abgegeben: «Für mich persönlich ist Aufrecht gestorben.» Er wolle nun, wie andere angefragte ehemalige Parteimitglieder, wieder auf ausserparlamentarische Aktivitäten fokussieren. Rüegger ist unter anderem Mitglied bei der Gruppierung Freunde der Verfassung.
Er und andere angefragte ehemalige Kantonsratskandidaten nennen auch das schmale Budget von Aufrecht Zürich als Grund für den Streit. Den Wahlkampf hätten die Spitzenkandidaten zum Teil aus der eigenen Tasche finanziert, was zu Frustrationen geführt habe, sagt Rüegger. Dem Vernehmen nach hatte Aufrecht ein Gesamtbudget von 35’000 Franken für den Kantonsratswahlkampf.
Rimoldi will in den Nationalrat
Die Frage, wie sehr man sich auf den Schweizer Politikbetrieb einlassen will, spaltet die Corona-skeptische Szene. Die Freunde der Verfassung haben sich auf einen ausserparlamentarischen Weg geeinigt. Nicolas Rimoldi von der Gruppierung Mass-voll kandidiert dagegen für den Nationalrat. Diese unterschiedliche Vorgehensweise sorgt immer wieder für Streit.
Mass-voll und andere Teile der massnahmenkritischen Bewegung haben mit der Initiierung eines erneuten Referendums zum Covid-Gesetz ein neues altes Thema gefunden. Ebenso positionieren sich Teile der Szene als sogenannte Friedensbewegung. Bei Demos in Bern im März wie auch an einer Kundgebung in Winterthur vergangenes Wochenende blieben die Teilnehmerzahlen allerdings deutlich hinter den Erwartungen.
Bewegung spaltet sich
Die kürzlich zurückgetretenen Aufrecht-Mitglieder im Kanton Zürich orientieren sich derzeit neu. «Es laufen Diskussionen, wie sich die ausgetretenen Gruppierungen weiter organisieren wollen», erklärt Christian Besmer, der die Co-Leitung des Bezirks Horgen innehatte und die Mitgliederadministration von Aufrecht Schweiz verwaltete.
«Uns geht es darum, dass die ehemaligen Sektionen keinen Wahlkampf mehr für Aufrecht betreiben», sagt Besmer. Ziel sei es, zusammen mit den ausgetretenen Personen eine neue politische Koordination aufzubauen. Die neue Ausrichtung beschreibt er als «lokal, basisdemokratisch, von unten nach oben».
Um nicht mehr mit Aufrecht in Verbindung gebracht zu werden, hat sich die Ortssektion Langnau umbenannt. Neu tritt der politische Verein unter dem Namen Helv-Ethik-Langnau auf. Zur Protestbewegung Helv-Ethica Ticino, die zuletzt zwei Sitze im Tessiner Kantonsparlament erobern konnte, besteht aber keine Verbindung. Der Bülacher Ex-Aufrecht-Mann Andi Widmer hat sich derweil der Bewegung Mass-voll angeschlossen.