nach oben

Anzeige

Kultur
abo
Autor Peter von Matt fotografiert in der Bar der «Kronenhalle».

Mit Peter von Matt verliert die Schweiz einen ihrer wichtigsten öffentlichen Intellektuellen. Hier auf einem Porträt 2021 in der Bar der Zürcher «Kronenhalle». Foto: Samuel Schalch

Zum Tod von Peter von Matt

Der Seelenkundler der Schweiz

Mit dem zuletzt in Dübendorf wohnhaften Peter von Matt verliert die Schweiz einen ihrer wichtigsten öffentlichen Intellektuellen. Bei ihm wurde Literaturwissenschaft zur Menschenwissenschaft.

Mit Peter von Matt verliert die Schweiz einen ihrer wichtigsten öffentlichen Intellektuellen. Hier auf einem Porträt 2021 in der Bar der Zürcher «Kronenhalle». Foto: Samuel Schalch

Veröffentlicht am: 23.04.2025 – 05.51 Uhr

Dass ein Zürcher Germanist in einem Newsmedium einen ausführlichen Nachruf erhält, ist nicht alltäglich. Aber Peter von Matt war kein gewöhnlicher Germanist. Gewiss, er hat 26 Jahre lang als Ordinarius regelmässig Vorlesungen über «Neuere Deutsche Literatur» gehalten – immer montags in der Aula der Universität, die ersten Reihen gefüllt mit älteren Damen, die zu ihrem Idol andächtig aufblickten –, er hat Seminare veranstaltet und Lizenziats- und Doktorarbeiten betreut (Wer, die oder der in der Schweiz professionell mit Literatur zu tun hatte, hat nicht bei ihm gelernt?).

Er hat Reden gehalten, Bücher und Aufsätze geschrieben und dafür mehr Preise erhalten (15!) als mancher arrivierte Schriftsteller in unserem kulturpreisverwöhnten Land. Niemand konnte Literatur so gut erklären, vermeintlich tote oder zu Tode interpretierte Texte zu neuem Leben erwecken, ihnen ihr Geheimnis entreissen, ohne sie dabei zu zerstören.

Aber Peter von Matt war mehr als nur ein grossartiger Literaturkenner und -deuter. Er war eine Art Seelenkundler der Schweiz. Ein Deuter der nationalen Befindlichkeiten, ein Mythenerklärer, ein Abwickler historisch-politisch-mentaler Knäuel. Das genaue Lesen literarischer Texte hat ihn ganz offensichtlich auch zur fruchtbaren Durchdringung der eidgenössischen Verhältnisse befähigt. Was dazu geführt hat, dass er schnell zu einem der meistbefragten und einflussreichsten Intellektuellen des Landes wurde. Er hat die Rolle nicht gesucht, aber sie gern angenommen und sich bereitwillig zu den jeweils aktuellen Problemen und Krisen befragen lassen.

Patriot – im besten Sinne

Sein Blick auf die Schweiz war historisch fundiert, kritisch und differenziert. Er analysierte nationale Mythen nicht, um sie zu «entlarven», sondern um ihre Funktion, ja ihre Notwendigkeit zu erklären. Dass es den Tell nicht gab, weiss heute jeder Depp (wie er, der sich gern kernig ausdrückte, sagen würde). Ihm ging es um die politische Wahrheit, die im Tell-Mythos steckt, nämlich: «Der Gehorsam im Staat hat eine Grenze.»

Von Matt war ein Patriot im besten Sinne, das heisst: Er liebte sein Land – ein «urtümliches Bedürfnis», wie er schrieb –, legte aber Wert darauf, den leuchtenden Bildern, die sich die Schweiz von sich selbst machte, immer die nüchternen Fakten entgegenzuhalten – ohne das Bedürfnis an solchen Bildern zu bestreiten. «Über unserer ganzen Geschichte steht der Satz: Mehr Glück als Verstand», schrieb er einmal. Und in dieser Geschichte habe sich die Schweiz eher durch «schlaues Durchwursteln» als durch Heroismus ausgezeichnet. Das hört auch heute nicht jeder gern.

In einer 1.-August-Rede auf dem Rütli 2009 stellte er die Schönheit des Ortes und der Landschaft der «Hölle» darunter gegenüber – den durch den Tunnel rasenden Lastwagenkolonnen. Beides steht für die Schweiz: die Selbstbezogenheit wie die Verbindung mit den Nachbarländern. «Unsere Heimat ist die Schweiz, aber die Heimat der Schweiz ist Europa», lautet so ein Von-Matt-Satz. Heilige Kühe kannte er nicht: «Die Mehrheit hat nicht immer recht», stand für ihn fest, ebenso wie: «Jedes Abstimmungsergebnis ist Zufall.» Und wenn zu viel vom «Volk» geraunt wurde, war ihm das unheimlich.

Ein Gräuel waren ihm der grassierende «Swissness-Ramsch» und die zunehmende Neigung zur «Vergemütlichung», überhaupt jeglicher politische Kitsch. Zu diesem zählte er auch die Verklärung der Mundart als der «eigentlichen Sprache» der Schweiz. Bei diesem Thema konnte er richtig hässig werden. Denn: Die Sprache der Deutschschweizer sei «Deutsch in beiden Gestalten, Mundart und Hochdeutsch», und Letzteres werde leider aus «Denkschwäche, Sentimentalität und Borniertheit» zunehmend vernachlässigt.

Er selbst schrieb ein brillantes Hochdeutsch – klar, farbig, originell, bilderreich, fern jeder Germanistenprosa. Der deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat ja einmal behauptet, von Matt sei der beste Schweizer Schriftsteller, was wohl ein boshafter Seitenhieb gegen Muschg, Bichsel & Co. war.

Schiller war keine Qual, sondern eine Initialzündung

1937 kam Peter von Matt in Luzern zur Welt, er stammte aus einer Familie von Druckern und Buchbindern und wuchs in Stans auf. Er hat einmal erklärt, sich als katholischer Innerschweizer lange als Bürger zweiter Klasse gefühlt zu haben. Im Gymnasium nahm der Deutschlehrer mit der Klasse ein volles Jahr Schillers «Tell» durch: für den Schüler Peter keine Qual, sondern eine Initialzündung. Er begriff, wie er sich später erinnerte, zum ersten Mal die «delikate Architektur» von Literatur, also wie sie gemacht ist: «Danach konnte ich nicht mehr rein empathisch lesen.»

Es folgten das Studium (Germanistik, Anglistik, Kunstgeschichte) in Zürich und Nottingham, die Promotion über Grillparzer bei Emil Staiger, die Habilitation über E. T. A. Hoffmann, 1976 dann die Berufung als Ordinarius und Staiger-Nachfolger an der Universität Zürich. Ein Vierteljahrhundert auf diesem Lehrstuhl: eine Ära.

Autor Peter von Matt fotografiert in der Bar der «Kronenhalle».
Peter von Matt war eine Art Seelenkundler der Schweiz. Ein Deuter der nationalen Befindlichkeiten, ein Mythenerklärer, ein Abwickler historisch-politisch-mentaler Knäuel. Foto: Samuel Schalch

Es erschienen die ersten grossen Bücher, die Literatur nicht historisch oder gattungstypologisch durchmusterten, sondern einen thematischen Zugang suchten und fanden: «Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur» oder «Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur».

Sein bedeutendstes Buch legte er 2006 vor, nach der Emeritierung. «Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist» umgreift den ganzen Kosmos abendländischen literarischen Schaffens von der Antike bis zur Gegenwart, von der Tragödie bis zum Spionageroman, unter Einschluss von Himmel, Hölle und Natur, bis man den Eindruck hat: Es geht immer und überall nur darum, um List und Strategie, um Lügen und Täuschen.

Und ist es nicht so? Pflanzen und Tiere täuschen ihre Fressfeinde, der Teufel legt die Menschen herein (und umgekehrt), jede Komödie lebt von der Schadenfreude über einen Geprellten, der Krimi von der Intrige des Täters und der Gegenintrige des Detektivs. Die Schadenfreude übrigens hat von Matt zu einem seiner schönsten Aufsätze inspiriert, über Shakespeares «Was ihr wollt» und Kellers «Die drei gerechten Kammmacher». Ein Beispiel, wie Literaturwissenschaft unversehens zur Menschenwissenschaft wird.

Von Matt geht immer aufs Ganze (des Werks) und ins Einzelne – hinein in eine Szene, hinab zu einem einzelnen Satz, ja manchmal zum einzelnen Satzzeichen: Es ist ein Gedankenstrich, bei dem Patricia Highsmiths Held Tom Ripley auf die Idee kommt, seinen Freund zu ermorden. Wer die 500 Seiten der «Intrige» gelesen hat, ist klüger, reicher, gebildeter geworden – und ganz wild darauf, nun all die Bücher selbst zu lesen.

Peter von Matts wichtigste Bücher

  • «Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur» (1989)
  • «Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur» (1995)
  • «Die tintenblauen Eidgenossen. Zur literarischen und politischen Schweiz» (2001)
  • «Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist» (2006)
  • «Wörterleuchten. Kleine Deutungen deutscher Gedichte» (2009)
  • «Das Kalb vor der Gotthardpost. Literatur und Politik der Schweiz» (2012)
  • «Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur» (2017)

Das Geheimnis von Peter von Matts Interpretationskunst liegt vielleicht darin, dass er ein souveränes lesendes Subjekt war, das sich nicht, wie viele Fachkollegen, zum Sklaven einer Methode machen liess. Er ist neugierig geblieben und hat das, was sich bei der Lektüre bei ihm abspielte, reflektiert, nachverfolgt und widergespiegelt.

Der Prozess der Lektüre spiegelt wiederum die Strategie des Autors, die bei der Analyse Zug um Zug zum Vorschein kommt: Wie der Detektiv das Vorgehen des Mörders Zug um Zug aufdeckt. Das macht wiederum den Leser eines von Mattschen Aufsatzes zum Zeugen und Begleiter eines Erkenntnisprozesses – eines überaus spannenden Erkenntnisprozesses, so spannend wie Literatur selbst, denn von Matt gelingt es, diesen Prozess als Erzählung zu gestalten.

Ausgangspunkt ist oft ein besonderer Satz, der den Interpreten irritiert und zu dem Schluss führt: «Dahinter muss etwas stecken.» Am Ende (oft schon in der Mitte) stehen ihrerseits Sätze, die die Erkenntnis verdichten und die in ihrer Prägnanz und Evidenz, in ihrer Bündigkeit und ihrem Formulierungsglück die Leser zum Jubeln bringen.

«Man soll die Weltgeschichte nicht im Rückblick erziehen wollen», ist so ein Satz. Oder: «Was wären wir nicht für traurige Gestalten ohne unsere verschwiegenen Bestände an inwendiger Trivialität!» Oder: «Das ist Peter Bichsels Kunst: das Schweigen zu erzählen, in dem ein ganzes Leben steckt.» Und zum Abschluss ein politischer Merksatz dieses grossen öffentlichen Intellektuellen: «Ohne den Eigensinn des Einzelnen wird die Gemeinschaft zur Herde. Ohne das Zusammenspannen mit den anderen wird der Einzelne zum Eigenbrötler.»

Am 22. April teilte seine Familie mit, dass Peter von Matt gestorben ist. Er wurde 87 Jahre alt.

Anzeige

Anzeige