Vor rotem Blitzlichtgewitter und begleitet von vibrierend starken Bässen erscheint Dragqueen Aquaria aus dem Boden des Galerie-Plateaus auf der Bühne. Grazil bewegt sie sich zum Takt von «Wake Me Up», dem showeigenen Song. Aquaria ist Host an diesem Abend und fordert das Publikum auf: «Zürich, wenn ihr bereit seid, schreit!»
Und Zürich schreit. Aber es ist halt immer noch Zürich. Die meisten Leute bleiben während der ganzen Vorstellung in «The Hall» in Dübendorf sitzen. Nur eine Handvoll Zuschauerinnen hält es nicht in ihren Sesseln und tanzt begeistert an den Saalrändern zu den Mash-ups von Madonnas «Like a Prayer», Loreens «Euphoria» oder Titeln von RuPaul selber.
Grösste Drag-Show entstand aus TV-Serie
«Werq the World» ist die grösste Drag-Show der Welt. Zu sehen in der fortlaufenden Tournee sind Dragqueens aus der Fernsehserie «RuPaul’s Drag Race». Die Reality-TV-Show handelt von RuPaul’s Suche nach Amerikas nächstem Drag-Superstar.
Die Gewinnerin der zehnten Staffel, Aquaria, steht nun mit fünf anderen Dragqueens und sechs Backgroundtänzerinnen und -tänzern in Dübendorf auf der Bühne. Ihre Kostüme, die für sich selbst schon ein Ereignis sind, werden die Dragqueens während der kommenden zweistündigen Show geschätzt zehnmal wechseln, und dies innert beeindruckend kurzer Zeit. Nur das aufwendige Make-up bleibt gleich sowie die Perücken, die jeder Bewegung standzuhalten scheinen.
Die Vorstellung ist eine Aneinanderreihung von perfekt sitzenden Choreos, viel nackter Haut, Comedy und einem beeindruckenden Bühnenbild. In der aufgebauten Extrabühne, zu der links und rechts schmale Treppen hochführen, ist mittig ein Lift (!) eingebaut, den die Dragqueens benutzen, um dramatisch vom Galerie-Plateau zu verschwinden und dann auf der Hauptbühne wieder aufzutauchen.
Kontrast zur Schweizer Szene
Das alles übertrifft die Schweizer Verhältnisse, deren Drag-Shows sich auf Kleintheaterbühnen abspielen. Vanessa la Wasch, eine Dragqueen aus Bern, wird nach der heutigen Vorstellung sagen: «Das ist ein ganz anderes Level, I am blown away, really!» (Der englische Lingo scheint der Drag-Kultur inhärent.) Ein Hauptgrund für den krassen Unterschied: «In der Schweiz macht das niemand hauptberuflich.»
Trotzdem findet la Wasch: «Gemessen an dem, was wir in der Preshow gezeigt haben, müssen wir Schweizerinnen uns nicht hinter den Ami-Drags verstecken!»
Während der halbstündigen Aufführung vor der Hauptshow treten Schweizer Dragqueens auf, darunter Victoria Shakespeare aus Basel, die Teil war von «RuPaul’s Drag Race Germany», der deutschen Ausgabe der Serie.
Obschon die Choreos mit den jungen Tänzerinnen aus Zürich teils nicht ganz eingeübt wirken, beeindrucken auch die lokalen Dragqueens. Ein beliebtes Tanzelement sind Death Drops, bei denen sie rückwärts auf den Boden in eine Pose springen, manchmal gar von einem Stuhl hinunter, in den Spagat.
«Lip Sync Battle»
Auch Vanessa la Wasch wird auf die Bühne geholt, allerdings spontan, für ein «Lip Sync Battle». Dieser kleine Wettstreit ist ein Element aus «RuPaul’s Drag Race»: Kommt es zur Entscheidung zwischen zwei Teilnehmenden, duellieren sich die beiden, indem sie zu einem spontan ausgewählten Song tanzen und den Liedtext synchron nachahmen. RuPaul entscheidet dann, wer im Rennen bleibt.
Am Abend in Dübendorf dient das Battle als Showeinlage zwischen zwei Dragqueens aus dem Publikum. Vanessa la Wasch performt zu «Everytime We Touch» von Cascada. Als der Refrain einsetzt, zieht sie schwungvoll den schwarzen Rock von der Hüfte weg und lässt ihn hinter sich fallen. Nur noch in schwarzen Netzstrumpfhosen und dem badeanzugähnlichen Oberteil bekleidet, tanzt sie selbstbewusst über die Bühne. Das Publikum tobt. Und verleiht ihr am Schluss den krönenden Applaus.
Früher sei Drag eine Nische gewesen, sagt la Wasch nach der Show. Dank RuPaul sei diese Kunst sichtbarer geworden und habe zu mehr Akzeptanz für die Menschen dieser Szene geführt, vorwiegend bestehend aus transsexuellen Personen und schwulen Männer. «Mir bedeutet Drag wahnsinnig viel», sagt Vanessa la Wasch, die nur mit ihrem Künstlernamen genannt werden will. «Ich kann so ein anderes Ich ausleben, und das ist wunderbar.»
Show als erste Begegnung mit Drag
Extra aus Deutschland angereist sind zwei Dragqueens, die sich als Veronica Mont Royal und Didi Divalicious vorstellen. Sie stehen nach der Show am Eingang zur Halle und posieren für Selfies mit anderen Gästen. «Es ist überwältigend, dass so viele Leute unsere Kunst wertschätzen», freut sich Veronica.
Die beiden seien gekommen, um «unsere local Queens zu unterstützen», sagt Didi. «In der Schweiz ist die Drag-Szene recht übersichtlich, aber gerade eine Show wie heute Abend ist ein wichtiger Schritt.» So hätten auch sie vor viereinhalb Jahren angefangen, sagt Veronica. «Drag ist ein weltweites Phänomen geworden, und es wächst, wie auch die Akzeptanz für Drag.»
Auch die Zürcherin Larissa Wild und ihre Kollegin Milena Hofstetter aus Rheinfelden zelebrieren «RuPaul’s Drag Race». «Die Queens aus der Serie live auf der Bühne zu sehen, war überwältigend», sagt Wild.
Es ist kurz nach 22.30 Uhr, und die beiden 27-Jährigen gehen zufrieden und erschöpft aus der Halle. Sie sind allerdings nicht in Drag, sondern wie viele andere Gäste heute Abend in Zivil gekleidet.
Es ist halt immer noch Zürich.