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Ein Mann auf einem roten Kinosessel.

Geprägt von seiner Kindheit in Dübendorf und dem Saal des Kinos Orion: Heute ist Giona Nazzaro künstlerischer Leiter des Locarno Film Festival. Foto: Seraina Boner

Dübendorfer am Locarno Film Festival

«Das Leben im Kino war einfach interessanter»

Giona Nazzaro ist der künstlerische Leiter des Locarno Film Festival. Im Interview erzählt der gebürtige Dübendorfer, wie er sich einst davongeschlichen hat, um den Film «Der Weisse Hai» im Kino Orion zu sehen.

Geprägt von seiner Kindheit in Dübendorf und dem Saal des Kinos Orion: Heute ist Giona Nazzaro künstlerischer Leiter des Locarno Film Festival. Foto: Seraina Boner

Veröffentlicht am: 02.08.2023 – 11.39 Uhr

Seit Mittwoch ist das Locarno Film Festival im Gang, es dauert zehn Tage. Vor dem Anlass war Giona Nazzaro ein gefragter Interview-Partner. Mehrere Medien nutzten die Gelegenheit, um dem künstlerischen Leiter des Festivals in Dübendorf zu befragen.

Nazzaro steht in einer Ecke des Kinos Orion und blickt in sein Smartphone. Nach einer kurzen Einweisung durch eine Mitarbeiterin seines PR-Teams und dem Hinweis, wie viel Zeit für das Interview bleibt, kommt Nazzaro aus der Ecke geschossen und bietet einem das Du mit einem sehr kräftigen Händedruck an. «Wollen wir uns setzen, hier, wo es kühl ist?», fragt er und wirft sich kurz darauf in einen der roten Sessel im Orion.

Herr Nazzaro, in diesem Kino sei Ihre Liebe zum Film entstanden, hat mir eine Ihrer Mitarbeiterinnen kurz vor dem Interview gesagt. Entfachte der Film, die damalige Begleitung oder der Saal des Kinos Orion diese Zuneigung?

Giona Nazzaro: Die Beziehung zum Kino Orion hat sich entwickelt, weil ich mit meiner Familie auf dem Weg zum Bahnhof hier oft vorbeispaziert bin. Im Orion waren die grossen Filmplakate ausgehängt, die immer etwas versprochen haben. Etwas, das interessanter war als der Alltag. Ich habe mich immer nach diesem Saal gesehnt, er hatte für mich etwas Magisches.

Und wie sitzt es sich heute in diesem Saal?

Es ist unheimlich, als habe sich nichts verändert. Hier war ich schon seit meiner Jugend nicht mehr. Bei meinem ersten Mal in diesem Raum habe ich gesagt: Ich könnte hier drin leben, daran hat sich auch heute nichts geändert. Damit meine ich nicht per se den Saal hier, sondern alle Kinos.

Ihr erster Film im Orion?

«Der Weisse Hai».

Man hat Ihnen Zutritt für einen Horrorfilm gewährt?

Ich erinnere mich ehrlich gesagt nicht mehr, wie damals der Eintritt ins Kino geregelt war. Mein Vater wollte natürlich nicht, dass ich hierherkomme, um «Der Weisse Hai» zu schauen. Er war der Meinung, der Film sei nicht geeignet für mein Alter und mein Wohlsein.

Ich habe lange gespart für das Billett ins Kino. Habe mich bei einem Ausflug in die Badi davongeschlichen und bin ins Kino. Ich sass hier irgendwo in der Mitte, habe gezittert wie Espenlaub und mit weit offenen Augen den Film geschaut. Als er fertig war, wollte ich ihn gleich noch mal sehen. Doch ich musste nach Hause, wo mein Vater schon auf mich gewartet hat. (Lacht.) Aber das ist eine andere Geschichte.

Zur Person

Giona Nazzaro ist in Dübendorf geboren und aufgewachsen. Mit zwölf Jahren ging er wieder zurück nach Italien, dem Heimatland seiner Eltern. Der heute 58-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohns. Seit 2021 ist er künstlerischer Leiter des Locarno Film Festival. Nazzaro ist ausserdem Autor und schreibt regelmässig als Filmjournalist.

Was denken Sie heute über diesen Streifen?

Er ist immer noch super. Der Film ist heute ein Klassiker, und Quentin Tarantino bezeichnet ihn als einen der wenigen perfekten Filme.

Es blieb nicht Ihr einziger Film in Dübendorf.

Nein. Einer, der mich sehr beeindruckt hat, war «The Warriors». Obwohl er als sehr gewalttätig beschrieben wurde, empfand ich ihn nicht so, sondern eher als sinnlich. Im Orion gab es früher zudem ab dem späteren Nachmittag italienische Filme zu sehen: Western, mythologische oder solche mit Bud Spencer und Terence Hill.

Ein Mann lehnt über einen roten Kinosessel.
Noch heute geht Giona Nazzaro bei jeder Gelegenheit ins Kino. Ins Dübendorfer Kino hat er es aber schon lange nicht mehr geschafft. Foto: Seraina Boner

Der Gang ins Kino war für Sie alles, oder gab es in Ihrer Freizeit noch etwas anderes?

Ich hatte Freunde aus Portugal, Spanien oder dem ehemaligen Jugoslawien. Am Sonntag sind wir zum Fussballplatz gelaufen, um ein Spiel zu sehen. Wir reden von Buben, die zwölf waren und noch nicht viel vom Leben kannten. Nach dem Bahnhof Dübendorf kommt Zürich; so viel wussten wir. Ältere Freunde haben uns jeweils über ihre Abenteuer aus der grossen Nachbarstadt vorgeschwärmt. Vom Nachtleben in den Discos und so weiter. Für uns blieb das Orion, das uns mit seinen Filmen eine Art Ersatz bot. Ganz banal gesagt: Das Leben im Kino war einfach interessanter. Ich habe zu der Zeit nie gedacht, dass es ausserhalb dieses Saals genauso interessant sein könnte.

Warten Sie, ich rufe meine Frau an.

Gehen Sie heute noch genauso häufig ins Kino?

Ja. Wenn ich heute in eine Stadt reise, schaue ich mir erst an, was in den Kinos läuft. Als ich kürzlich in London war, bin ich jeden Tag in ein Kino gegangen.

Was hat sich im Vergleich zu früher verändert?

In den 1970er Jahren ging man in ein Kino und wusste nicht, was einen erwartet. Man konnte überrascht oder sogar schockiert sein. Das hat den Gang ins Kino interessant gemacht. Es war gefährlicher und rasanter als heute, wo jeder mehr oder weniger weiss, was er sehen wird. Allein die Symbole auf den Plakaten lassen dich wissen: Sex, Gewalt, Drogen oder unkonventionelle Ideen kommen in diesem Film vor.

Somit können Sie sich heute nicht mehr unvoreingenommen einen Kinofilm anschauen?

Doch. Ich gehe oft ins Kino ohne Ahnung, was mich erwartet. In London habe ich mir einen Film angeschaut, über den ich gar nichts wusste. Ich glaube, der hiess «Rise Street» oder so … Hm, ich bin mir nicht mehr sicher. Ich will das jetzt wissen – warten Sie, ich rufe meine Frau an. (Ruft seine Frau an und fragt auf Italienisch.)

Derzeit hinken Serien- und Filmproduktionen aus Hollywood wegen des Streiks der Drehbuchautoren hinterher. Und seit Kurzem streiken auch Schauspielerinnen und Schauspieler. Hat diese Arbeitsniederlegung Auswirkungen auf das Locarno Film Festival?

Ja. Wir merken die Auswirkungen im Gespräch mit verschiedenen Personen der Filmbranche, und uns beschäftigt das Thema als Kulturveranstalter. Generell geht es beim Streik um den Wert der Drehbuchautoren, der Schauspieler, der Künstler. Wer profitiert am Ende einer Filmproduktion? Das ist heute insbesondere im Zusammenhang mit den Streaming-Anbietern unklar. Es ist vor allem eine wirtschaftliche Frage. Wie das weitergeht, ist schwierig zu beantworten. Sicherlich ist es richtig, dass die momentane Situation hinterfragt wird.

Inwiefern?

Betrachtet man die Fernsehserien, sind die bedeutendsten von sehr guten Drehbuchautoren geschrieben. Damit diese auch die richtige Motivation finden, sich untereinander herauszufordern und besser zu werden, braucht es eine entsprechende Entlohnung. Sollen denn die neuen «The Wire», «The Sopranos» oder «The Six Feet Under» herausragende Produktionen werden, oder ist es egal, wie das Drehbuch geschrieben ist, weil das Publikum in zwei Wochen sowieso wieder alles vergessen hat? Und ein Drehbuch mithilfe einer künstlichen Intelligenz zu schreiben, geht einfach nicht. Der individuelle Kern der menschlichen Intelligenz ist nicht reproduzierbar. Es gibt nur einen Steven Spielberg und nur einen Luis Buñuel. … «Rye Lane».

Wie bitte?

«Rye Lane» ist der Titel des englischen Films von Raine Allen-Miller. Hat mir meine Frau eben geschrieben.

Wie war der Film?

Super, ich hätte mir gewünscht, dass er in Locarno auf der Piazza vorgeführt wird.

Worauf freuen Sie sich während des zehntägigen Events am meisten?

Auf die Stimmung des Festivals, und dass Filmdelegationen sich mit der Bevölkerung mischen. Locarno atmet zu der Zeit im gleichen Rhythmus wie das Festival.

Sie werden aber bestimmt einige prominente Hände mehr schütteln dürfen als jemand aus der Bevölkerung.

Ich freue mich, dass ich Cate Blanchett begrüssen darf und auch Regisseure wie Ken Loach oder Bertrand Mandico.

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