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Justiz
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Symbolbild Stützmauer

Bei der Stützmauer im Garten an der Grenze zweier Grundstücke war es zum blutigen Streit gekommen. (Symbolbild) Foto: Unsplash

Zwei Glatttaler Senioren vor Gericht

Wenn der Nachbarschaftsstreit mit einem Schädelbruch endet

Wegen einer Grenzlinie bekämpften sich zwei Senioren im Glatttal wortwörtlich bis aufs Blut. «Primitiv», findet das Gericht und hätte am liebsten beide verurteilt.

Bei der Stützmauer im Garten an der Grenze zweier Grundstücke war es zum blutigen Streit gekommen. (Symbolbild) Foto: Unsplash

Veröffentlicht am: 09.09.2023 – 10.12 Uhr

«Warum konnte dieser Konflikt nicht auf zivilisierte Weise gelöst werden?» Die zentrale Frage, die der doch spürbar befremdete vorsitzende Richter des Bezirksgerichts Uster keine halbe Stunde nach Beginn der Verhandlung am Donnerstag stellte, wurde von den beiden Angeklagten umgehend beantwortet.

«Ich versuche ja, Konflikte auf die beste Art zu beenden», sagte der eine, heute 88-jährig. «Man könnte das schon normal regeln – aber halt nicht mit ihm», sagte der andere, 71-jährig. Damit war die – man kommt nicht drumherum, es so zu formulieren – eigentlich unlösbare Ausgangslage schon mal klar.

Beim Markieren der Grenzlinie explodierte die Situation

Eine Ausgangslage, die in der Anklageschrift wie folgt beschrieben wird. An einem späten Nachmittag Anfang 2022 war der ältere der beiden Senioren, nennen wir ihn, da geborener Südländer, Herr Russo, im Garten seines Hauses in einer Glatttaler Gemeinde daran, mit an Eisenstangen gespannten Schnüren die Grenzen seines Grundstücks zu visualisieren. Dabei kletterte er auf eine Leiter, die an der zwei Meter hohen Stützmauer zum Nachbargrundstück angelehnt war.

Dadurch sah sein direkter Nachbar auf dem oberhalb gelegenen Grundstück, nennen wir ihn Huber, den Kopf von Russo, mit dem er seit über 20 Jahren Streit hat. Huber ist laut Anklage dann zur Leiter gegangen, trat Russo mit dem Fuss ins Gesicht und versetzte der Leiter einen Stoss, sodass Russo nach hinten in seinen Garten stürzte.

Mit Stangen bewaffnet aufeinander los

Verkürzt gesagt, kam es gleich darauf zu einer tätlichen Auseinandersetzung, wobei Russo mit einer 2,5 Kilo schweren Eisenstange bewaffnet war, Huber mit einem leichten Metallrohr. Beide drohten sich den Tod an – beispielsweise mit den Worten «Du Sauhund, ich bring dich um!» – und gingen aufeinander los. Am Schluss lag Huber blutüberströmt und schwer verletzt, unter anderem mit einem Schädelbruch, am Boden.

Wir blieben uns nichts schuldig.

Huber zum verbalen Teil des Streits

Vor Gericht stellten die Senioren die ihnen vorgeworfenen Tathandlungen in Abrede und beschuldigten sich gegenseitig der Aggression. Einzig die verbalen Entgleisungen gestanden sie. Oder wie Huber es ausdrückte: «Wir blieben uns nichts schuldig.»

Russo gab ferner zu, dass sein Verhältnis zu den verschiedenen Nachbarn «nicht besonders gut ist; es sind alle ein bisschen Rassisten», und dass er wohl zu einer Eisenstange gegriffen habe, «aber nur zur Abwehr». Huber wiederum sagte, er habe damals mit dem Metallrohr einfach die Grenzmarkierung, die ihn nervte, entfernen wollen.

Staatsanwalt findet beide gleich (un-)glaubwürdig

Auch für den Staatsanwalt war es anfänglich schwierig zu bestimmen, wer vom Duo «der böse Nachbar» sei. Sein Fazit: Beide sind es. Denn keiner habe die  glaubhaftere Aussage gemacht, die Verletzungen der Männer sind belegt, und deshalb sei der Streit wohl so abgelaufen, wie in der Anklage geschildert.

Er verlangte denn auch für beide dieselbe Sanktion. Primär wegen versuchter schwerer Körperverletzung seien sie zu 24 Monaten bedingt zu verurteilen.

Alles «Übertreibungen» und «Erfindungen»?

Erwartungsgemäss forderten die Verteidiger einen Freispruch – aber je die Verurteilung des anderen Angeklagten. Und die Anwälte wollten mehrere tausend Franken Genugtuung und Schadenersatz; im Fall von Russo unter anderem 6000 Franken für die fast vier Wochen, die er nach der Gewalttat in Untersuchungshaft sass.

Die Anwältin von Russo sprach von «Übertreibungen» der Gegenseite. Sie machte eine Notwehrsituation geltend, die ihren Mandanten, «einen hochanständigen Menschen», spontan habe zu einer Stange als Waffe greifen lassen. Eine Stange übrigens, die vielleicht gar keine Eisenstange, sondern eine Holzlatte gewesen sei.

Hubers Anwalt sagte, «die unsägliche Grenz-Absteckaktion» habe die Auseinandersetzung provoziert. Der Vorwurf eines Fusstritts ins Gesicht und des Leiterwegstossens «ist erfunden»; so, wie laut dem Juristen noch viel anderes in diesem Fall.

Schliesslich muss man offenlassen, wer begonnen hat.

Der vorsitzende Richter zur gewalttätigen Auseinandersetzung

 

Das Gericht fällte ein Urteil, dass es mit dem Wort «komplex» bezeichnete. Deshalb hier nur die Hauptpunkte: Russo wird wegen versuchter schwerer Körperverletzung schuldig gesprochen und erhält eine bedingte Freiheitsstrafe von 15 Monaten. Huber wird nur wegen Beschimpfung verurteilt und kassiert eine bedingte Geldstrafe von 500 Franken.

Dass Huber nicht auch wegen Körperverletzung verurteilt wurde, sei einzig aufgrund «gewisser Zweifel» passiert, betonte der vorsitzende Richter. Oder anders ausgedrückt: «Es ist ein eindeutiger Im-Zweifel-für-den-Angeklagten-Fall, kein sauberer Freispruch.»

Beide Männer seien mit einer Stange bewaffnet gewesen, wobei Russo nicht nur zur Abwehr, sondern offensiv zugeschlagen und dabei «zweifellos übertrieben hat». Doch beide Senioren, denen eine Notwehrsituation zugestanden wurde, seien «keine Engel», und wer die Auseinandersetzung begonnen habe, «muss man schliesslich offenlassen».

Versöhnung unmöglich?

Der Richter warnte am Schluss die Angeklagten, ihren Streit noch einmal auf diese Art auszutragen. «Das war eine primitive Handlungsweise.» Man solle sich doch versöhnen.

Worauf Hubers Frau von der Zuschauerbank her rief: «Das ist unmöglich!» – Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

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