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Man sieht eine antike Waage.

Lohn für pflegende Angehörige: Halten sich Kosten, Nutzen und Anerkennung im Gleichgewicht? Foto: Unsplash

Gesundheitsorganisationen hinterfragen Modell

Lohn für pflegende Angehörige: Anerkennung oder Ausbeute?

Die Pflege von Angehörigen kann gut gelingen. Doch Gesundheitsorganisationen sind mit dieser Lösung nicht immer glücklich. Wie stellt sich die Gegenseite zu diesen Vorwürfen?

Lohn für pflegende Angehörige: Halten sich Kosten, Nutzen und Anerkennung im Gleichgewicht? Foto: Unsplash

Veröffentlicht am: 20.09.2024 – 13.29 Uhr

Seit einem Bundesgerichtsurteil im Jahr 2019 dürfen sich pflegende Angehörige von Spitex-Organisationen «anstellen» und für ihre Pflegeleistungen Lohn auszahlen lassen. In Anbetracht unzähliger Stunden aufopfernden Engagements nicht mehr als gerecht.

Nun würde man eigentlich davon ausgehen, dass die Pflege durch Angehörige das Gesundheitssystem entlasten würde. Verschiedene Gesundheitsorganisationen, darunter Santésuisse, sind aber anderer Meinung – besonders, wenn sich Angehörige bei privaten Spitex-Organisationen anstellen lassen.

Das sagt Santésuisse

Christophe Kaempf, Mediensprecher der Branchenorganisation Santésuisse, erklärt die Bedenken stellvertretend für viele kritischen Stimmen.

Herr Kaempf, wie ordnet Santésuisse die Vergütung für ambulante Pflege ein?

Christophe Kaempf: Ambulante Pflege ist grundsätzlich sehr wichtig und wird von den Krankenversicherern auch fair vergütet. Allerdings haben wir starke Vorbehalte gegenüber der Ausgestaltung des aktuellen Modells für pflegende Angehörige.

Weshalb?

Zunächst ist festzuhalten, dass es extrem wichtig ist, wenn sich Angehörige um ihre Liebsten kümmern. Die Kehrseite der Medaille ist die Prämienlast, denn diese droht durch das aktuelle Modell stark zuzunehmen. Die heutige Regelung beinhaltet dieselbe Entlöhnung für die Leistung der pflegenden Angehörigen wie für professionelle Spitex-Angestellte. Allerdings bleibt ein grosser Teil dieser Gelder bei der Firma, welche die Angehörigen anstellt. Das ist ein erheblicher Teil dieser Fr. 52.60.

Das heisst, diese Firmen profitieren von den pflegenden Angehörigen?

Wir stellen fest, dass immer mehr Firmen sich einzig zum Zweck gründen, pflegende Angehörige anzustellen. Mittlerweile gibt es mehr als 30 Firmen, die sich fast ausschliesslich auf dieses Geschäft konzentrieren. Mittlerweile kosten diese Leistungen jährlich rund 100 Millionen Franken, wobei uns die Dynamik des Wachstums besonders grosse Sorgen bereitet: Wenn sich alle Personen, die Angehörige pflegen, durch Firmen anstellen lassen, welche die Leistungen der Krankenversicherung in Rechnung stellen, würden die Kosten in die Milliarden gehen.

Grundsätzlich ist es aber schon nachvollziehbar, wenn pflegende Angehörige einen Lohn beanspruchen und auf Support zurückgreifen möchten, oder?

Die Pflege von Angehörigen ist eine enorm wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Wir respektieren, dass hier eine Entlöhnung möglich ist. Allerdings sind wir der Auffassung, dass die Grundversicherung das falsche Finanzierungsgefäss ist, weil damit die Kopfprämien weiter unter Druck geraten.

Wie könnte das System Ihrer Meinung nach funktionieren?

Einerseits müsste ein geeigneteres Finanzierungsgefäss für die allfällige Entlöhnung dieser wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe gefunden werden. Ein weiterer Ansatzpunkt könnte sein, dass der komplett überhöhte Tarif, der derzeit gezahlt wird, stark gesenkt würde. Der Tarif umfasst nämlich zum Beispiel auch die Anreise, die bei der Pflege der Angehörigen oftmals wegfällt. Santésuisse erwartet im Übrigen von den Kantonen, dass sie die Organisationen, die Angehörige unter Vertrag nehmen, genau beaufsichtigt werden, um die Qualität sicherzustellen. Letztlich braucht es gesetzliche Leitplanken, um zu verhindern, dass bestimmte Organisationen der häuslichen Pflege von der Arbeit der pflegenden Angehörigen profitieren.

Was raten Sie pflegenden Angehörigen – sollen sie sich von einer Spitex anstellen lassen?

Letztlich muss jede Person selber wissen, ob es angebracht ist, sich für die Betreuung von Angehörigen aus Mitteln der sozialen Krankenversicherung entschädigen zu lassen. Es ist wichtig, dass sie sich gut informieren, welchen Anteil des Tarifs sie erhalten. Ausserdem sollten sie sich gut überlegen, ob sie die Verpflichtungen, die mit einer entschädigten Arbeit einhergehen, dann effektiv auch einhalten können. Es ist sinnvoll, wenn pflegende Angehörige eine akkurate Ausbildung absolvieren.

Das sagt Carela

Gemäss Nadine Büchler, Leiterin Kommunikation bei der Spitex-Organisation Carela, werden Carela und die pflegenden Angehörigen, die sie unterstützen, mit zwei zentralen Vorwürfen immer wieder konfrontiert: Dass private Spitex-Organisationen mit ihrem Geschäftsmodell abkassieren und dass sie die Gesundheitskosten zum Explodieren bringen.

Frau Büchler, wie stellt sich Carela zu diesen Vorwürfen?

Nadine Büchler: Zunächst möchten wir betonen, dass es unangemessen ist, pflegende Angehörige mit steigenden Gesundheitskosten in Verbindung zu bringen. Dank ihres immensen Engagements ermöglichen sie es, dass ihre Liebsten zu Hause wohnen bleiben können. Diesen Wunsch zu erfüllen, ist nicht nur individuell, sondern auch für unsere Gesellschaft wichtig: Denn dadurch entfallen häufig hohe Kosten für Pflegeheime, die sonst durch Ergänzungsleistungen oder Steuergelder gedeckt werden müssten.

Explodierende Gesundheitskosten, weil sich immer mehr Menschen zu Hause pflegen lassen?

Das Argument einer Kostenexplosion durch Spitex-Dienste ist stark verzerrt. Von den über 90 Milliarden Franken an Gesamtausgaben im Gesundheitswesen (2022) entfallen gemäss Santésuisse lediglich etwa 2 Milliarden Franken auf die Pflege zu Hause. Davon wiederum ist der Anteil für die Entschädigung pflegender Angehöriger ein Bruchteil: Im ersten halben Jahr 2024 waren es gemäss Santésuisse 50 Millionen Franken. Also macht die Angehörigenpflege zurzeit rund 0,1 Prozent der jährlichen Gesundheitskosten aus.

Ist die finanzielle Unterstützung für pflegende Angehörige angemessen angesichts ihrer Aufgabe?

Pflegenden Angehörigen ein schlechtes Gewissen zu machen, ist anmassend. Angesichts der Tatsache, dass sie beispielsweise ihre an MS-erkrankten Ehepartner, Eltern mit Parkinson oder Kinder mit schweren Beeinträchtigungen zu Hause pflegen, ist diese Entschädigung mehr als gerechtfertigt.

Unterscheiden sich die Aufwendungen einer privaten zu denen einer öffentlichen Spitex?

Als Spitex-Organisation mit Fokus auf Angehörigenpflege haben wir die gleichen Ein- und Ausgaben wie jede andere Spitex-Organisation. Ein Bericht des Bundesrats aus dem Jahr 2021 bestätigt klar, dass es bei der Zulassung und Qualitätsanforderungen keine Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Spitex-Organisationen gibt.

Es ist also nicht so, dass private Spitex-Organisationen an den pflegenden Angehörigen verdienen?

Unsere Leistungen, wie auch die der pflegenden Angehörigen, werden wie bei jeder Spitex-Organisation nach der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) und durch die Restkostenfinanzierung der Kantone oder Gemeinden vergütet. Neben den Lohnkosten für pflegende Angehörige mit 34 bis 42 Franken pro Stunde decken wir mit diesen Einnahmen die gleichen Kosten wie jede andere Spitex: Lohnkosten unserer hoch qualifizierten Pflegefachpersonen, die die pflegenden Angehörigen fachlich und emotional begleiten, die umfangreiche Administration mit Krankenkasse (inkl. zahlreicher Rekurse) und Sozialversicherungen, die Ein- und Erhaltung kantonaler Bewilligungen, Spitex-Software und Qualitätssicherung. Die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Spitex ist entsprechend künstlich.

Ihr Rat an pflegende Angehörige?

Wo wir den Kritikern recht geben: Es gibt Spitex-Organisationen, die ihrer Rolle bezüglich Unterstützung der pflegenden Angehörigen unzureichend nachkommen. Hier besteht Nachholbedarf. Wir empfehlen interessierten Personen, sich gut zu informieren und den Organisationen auf den Zahn zu fühlen. Zum Beispiel: Wie oft findet ein Austausch statt? Wie erfahren sind die Pflegefachpersonen? Wie viele pflegende Angehörige unterstützt eine Pflegefachperson gleichzeitig? Ob 20 oder 50 macht einen grossen Unterschied in der Qualität.

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