Die Pandemie ist längst vorbei, aber noch immer liest man von überfüllten Spitälern, ausgebranntem Personal und explodierenden Kosten. Was läuft schief?
Die Situation ist ähnlich wie in anderen Branchen: Es fehlt Personal, der Wunsch nach Teilzeitarbeit, nach mehr Flexibilität hat zugenommen. Durch Corona geriet das Gesundheitswesen besonders in den Fokus – und in diesem Bereich wurde auch einiges unternommen: Viele Institutionen haben die Löhne sowie die Schichtzulagen erhöht. Kantone unterstützen mit zusätzlichen Geldern. Darüber hinaus wurde die Pflegeinitiative deutlich angenommen, in welche Bund und Kantone in der ersten Etappe eine Milliarde Franken investieren werden. Dabei bleibt es aber nicht: Wir sind mit ganz vielen Forderungen konfrontiert, auch mit vielen guten Ideen – dabei vergisst man aber oft, wer das dann bezahlen muss: die Steuer- und Prämienzahler. Also wir alle.
Dass das Personal Forderungen stellt, ist doch verständlich.
Natürlich. Ich möchte aufzeigen, was die Konsequenzen sind. Die Spitäler und Heime sind mit Personal konfrontiert, das weniger arbeiten, aber gleich viel oder sogar mehr verdienen möchte. Dabei machen sie die Erfahrung, dass, sobald die Löhne erhöht werden, oftmals das Pensum reduziert wird. Das bedeutet: Sie müssen noch mehr Leute einstellen. Da sie zu wenige Fachkräfte finden, greifen sie vermehrt auf Temporäre zurück. Das wiederum sorgt für häufige Wechsel in den Arbeitsteams und damit für Unruhe beim Personal sowie zu höheren Kosten. Und auch für die Patienten hat es Konsequenzen, wenn das Personal ständig wechselt.
Ist unser Gesundheitssystem nicht auch zu luxuriös geworden? Selbst Grundversicherte bekommen heute in den Spitälern ein Einer- oder Zweierzimmer, können wie im Hotel das Menü auswählen, kriegen eine umfassende Rundumversorgung.
Die Spitäler wollen neben einer guten medizinischen Behandlung auch eine moderne, zeitgemässe Infrastruktur für Patienten und Personal bieten. Ein Beispiel dazu: Im Neubau des Kantonsspitals Winterthur wurde neben Mehrbettzimmern auch auf Einzel- und Zweierzimmer gesetzt, was einem Bedürfnis der Patienten entspricht. Die Spitäler stehen im Wettbewerb zueinander. Das kann man natürlich kritisieren. Ich würde aber vor einer Verstaatlichung warnen. Eben war ich in England und habe gesehen, wozu ein staatliches System wie der NHS führt: viele Streiks, lange Wartezeiten, explodierende Kosten. Bei uns hingegen haben wir einen sehr guten Zugang und kaum Wartelisten, mit ganz wenigen Ausnahmen, etwa in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und in ländlichen Regionen bei den Hausärzten.
Ein System, das einen Grossteil des Mittelstandes in Schwierigkeiten bringt, kann man nicht mehr solidarisch nennen.
Das ist doch genau das Problem: Die Politik gibt jedem Bedürfnis nach, baut Luxusspitäler, man will ja wiedergewählt werden.
Zum Teil ist es gerechtfertigt, dass man auf diese Bedürfnisse eingeht: Erfahrungen zeigen, dass eine moderne Infrastruktur eine positive Wirkung auf die Genesung hat, und es gibt Patienten, die man aufgrund der Erkrankung ungeachtet des Versicherungsstatus in einem Einzelzimmer unterbringen muss. Aber Sie haben recht: Heute kriegen Grundversicherte immer öfters dieselbe Leistung wie Privatversicherte. Das ist aber nicht das Hauptproblem.
Was ist das Hauptproblem?
Das Krankenversicherungsgesetz KVG wurde 1994, also vor bald 30 Jahren angenommen. Damals wurde ein System mit tiefen Kosten versprochen. Heute gehe ich so weit zu sagen: Dieses System mit der obligatorischen Grundversicherung, der jährlich sich anpassenden Kostendeckung durch angepasste Prämien und der mit Steuergeldern finanzierten individuellen Prämienverbilligung ist aus finanzieller Sicht gescheitert.
Das ganze System?
Der Ansatz vor 30 Jahren war, eine solidarische Versicherung einzuführen, die eine gute Versorgung für alle sicherstellt. Die Versorgung ist tatsächlich hervorragend. Aber durch die stetig steigenden Prämien werden immer mehr Leute belastet. Ein System, das einen Grossteil des Mittelstandes in Schwierigkeiten bringt, kann man nicht mehr solidarisch nennen. Es trifft vor allem den Mittelstand: Bei den Armen werden die Prämien vom Staat übernommen, für die Reichen stellen sie kein Problem dar. Und ein Ende der Prämiensteigerung ist nicht in Sicht.
Um Geringverdiener zu entlasten, gibt es die individuelle Prämienverbilligung.
Genau. Die Ausgaben dafür steigen rasant an. Allein im Kanton Zürich stehen über eine Milliarde jährlich für Prämienverbilligungen bereit! Das muss man sich mal vorstellen – das sind Steuergelder. Beinahe 30 Prozent der Einwohner erhalten schon Prämienverbilligungen. Und trotzdem haben viele Leute Schwierigkeiten, die Krankenkassenprämien zu bezahlen.
Die Linke fordert deshalb schon lange eine Abkehr von der Kopfprämie hin zu einem steuerfinanzierten System.
Wir haben schon heute keine reine Kopfprämie, sondern ein Mischsystem, das mit Steuergeldern und durch Selbstzahler mitfinanziert wird. Noch mehr Staat, und das zeigen Beispiele aus dem Ausland, führen zu einer Verschlechterung des Angebots. Wir haben jetzt schon die Tendenz, immer mehr Kosten den Kantonen aufzubürden. Der Bund und der Preisüberwacher drücken auf die Spitaltarife, wobei die Spitäler schon heute unter Druck sind wegen der Teuerung, der gestiegenen Energiepreise und Lohnerhöhungen.
Zurzeit gibt es einen neuen Anlauf für eine Einheitskasse. Ist das die Lösung?
Das würde am Grundproblem nichts ändern: dass die Grundversicherung mittlerweile eine Vollversicherung ist, die alles bezahlt. Und zwar für jeden, auch jene, die neu in die Schweiz kommen, oder für Asylbewerber, die nichts bezahlen.
Ich habe keine fertige Lösung parat. Ich sage einfach: So wie jetzt kann es nicht weitergehen.
Wie soll der Systemwechsel aussehen?
Zuerst einmal fordere ich einen sofortigen Marschhalt. Zurzeit sind Dutzende von «kleinen» Reformen hängig – an allen Ecken und Enden wird herumgeflickt. Das bringt wenig, ausser mehr Bürokratie. Wir sollten das System von Grund auf überdenken. Ende Jahr tritt Alain Berset ab, wir erhalten also eine neue Gesundheitsministerin respektive einen neuen Gesundheitsminister, zusammen mit dem neuen Parlament wäre das eine gute Gelegenheit für einen Neustart.
Was genau schlagen Sie vor?
Ich habe keine fertige Lösung parat. Ich sage einfach: So wie jetzt kann es nicht weitergehen. Deshalb wären ein Marschhalt und eine Grundsatzdiskussion sinnvoll. Es braucht eine grundlegende Reform. Dabei darf es keine Tabus geben. Meiner Meinung nach sollte sogar eine Abschaffung der obligatorischen Krankenversicherung in Betracht gezogen werden.
Arme Leute sollen sich nicht mehr versichern können?
Im Gegenteil. Eine Grundversicherung sollte in erster Linie für die Geringverdiener da sein. Ob es für alle anderen ein Obligatorium braucht, muss man ernsthaft prüfen. Der Staat sollte sich auf die Bedürftigen konzentrieren, das wäre sozial.
Das Problem ist doch gar nicht lösbar: Wirklich helfen würde nur eine radikale Kürzung des Leistungskatalogs auf das Nötigste. Aber jeder Politiker, der dies forderte, würde sofort abgewählt.
Genau solche Massnahmen müssen jetzt diskutiert werden. Man muss den Bürgern natürlich ein Angebot mit einem attraktiven Preis-Leistungs-Verhältnis vorlegen. Also mit spürbar tieferen Prämien. Dann akzeptieren sie auch, dass Leistungen, die nicht wirklich zur Grundversorgung gehören, nicht mehr bezahlt werden. Zurzeit geht es in die gegenteilige Richtung: Es gibt unzählige Forderungen, den Leistungskatalog zu erweitern. Von Leistungen, die man streichen könnte, spricht selten jemand.
Ist das auch eine Kritik an Alain Berset? Hat er zu wenig gemacht?
Es geht hier nicht um einzelne Personen, Verbände oder Institutionen. Ich habe sehr gut mit Alain Berset zusammengearbeitet. Einer allein kann dieses komplexe System ohnehin nicht ändern. Wir haben heute ein System, bei dem extrem viele Seiten mitreden: Bund, Kantone, Gemeinden, Ärzteschaft, Spitäler, Apotheken, die vielen Krankenkassen, die Pharmaindustrie. Letztlich aber trägt niemand die Verantwortung allein. Deshalb ist es nicht einfach. Aber es ist klar, die neue Gesundheitsministerin respektive der neue Gesundheitsminister muss hier den Lead übernehmen.
Früher ging man zum Arzt, wenn man das Gefühl hatte, krank zu sein. Heute geht man oft zum Arzt, um abzuklären, dass man auf keinen Fall krank ist.
Das Problem liegt doch nicht nur beim System, sondern auch bei der gesellschaftlichen Entwicklung: Die Leute sind deutlich häufiger krankgeschrieben, vor allem Junge gehen heute viel schneller zum Arzt als früher, oder?
Die Sensibilisierung für die eigene Gesundheit wurde nicht zuletzt durch Corona spürbar gestärkt. Vor allem bei den Jungen hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Früher ging man zum Arzt, wenn man das Gefühl hatte, krank zu sein. Heute geht man oft zum Arzt, um abzuklären, dass man auf keinen Fall krank ist. Viele dieser Abklärungen und Tests werden über die Grundversicherung bezahlt. Ich unterstütze schon seit meiner Zeit im Nationalrat die Idee, bei der Notfallaufnahme eine Gebühr einzuführen, um Bagatellfälle zu verhindern.
Neben den Kosten ist der Fachkräftemangel das grösste Problem. Was viele nicht wissen: In den letzten 15 Jahren hat sich laut Bundesamt für Statistik das Pflegepersonal in der Schweiz von 152’000 auf 230’000 markant erhöht. Trotzdem reicht das nicht.
Neben der zunehmenden Anzahl Teilzeitarbeitenden spielt vor allem das Bevölkerungswachstum eine Rolle. Seit das KVG eingeführt wurde, leben zwei Millionen Menschen mehr in der Schweiz. Alle wollen auf hohem Niveau versorgt werden. Nicht nur gesundheitlich. Es braucht auch mehr Schulen, mehr öffentlichen Verkehr, mehr Wohnraum. Um bei der Gesundheit zu bleiben: Dieses Wachstum erachte ich für ungesund.
Immer mehr Menschen müssen wegen psychischer Probleme in Behandlung. Sie selber waren vor zehn Jahren wegen einer Depression in der Klinik. Beeinflusst dies Ihre Politik?
Ich weiss, was es heisst, eine Depression zu haben und Unterstützung in Anspruch nehmen zu müssen. Und wie wichtig es ist, sich selber gut zu schauen. Deshalb liegt mir die psychische Gesundheit der Bevölkerung sehr am Herzen. Noch heute werde ich oft darauf angesprochen, wie ich damit umgegangen bin. Es war mir damals wichtig, mit meiner Offenheit einen Beitrag zur Enttabuisierung zu leisten. Man soll darüber reden, wenn es einem nicht gut geht. Deshalb haben wir auch die Kampagne «Wie geht's dir?» mitentwickelt und unterstützen sie finanziell.
Die Kosten für die Behandlung psychischer Leiden sind in den letzten Jahren stark angestiegen.
Deshalb ist Prävention so wichtig. Sorgen macht mir vor allem die starke Zunahme im Kinder- und Jugendbereich. Die zunehmende Nutzung der sozialen Medien bis hin zu gefährlichen Trends, die zum Teil schwere Folgen haben, können Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Da haben vor allem die Eltern eine grosse Verantwortung.
Auch in diesem Bereich zeigt sich: Sparen in der Gesundheit ist schwierig.
Als Gesundheitsdirektorin stehe ich immer im Dilemma: Einerseits will ich eine gute Versorgung sicherstellen, doch viele Massnahmen, die der Kanton umsetzt und die von Gewerkschaften, Verbänden oder dem Parlament zusätzlich gefordert werden, haben höhere Kosten zur Folge, die von der Allgemeinheit getragen werden müssen. Eigenverantwortung sollte deshalb auch bei der Gesundheit wieder mehr Priorität haben. In unserem heutigen System ist das aber immer weniger der Fall.