«Dum-da-dum-da-dum …», so klingt der dumpfe Galopp eines Pferds im Sand der Reithalle. Aber auf dem Ross sitzt kein normaler Reiter. Nein, eine junge Frau balanciert im Handstand, ohne Helm, auf dem im Kreis galoppierenden Pferd. Als würde der Pferderücken nicht wild auf und ab schaukeln, kauert sie sich zusammen und springt darauf zwei Meter hoch in die Luft. Dabei spreizt sie die Beine in einem perfekten Spagat und landet wieder auf dem Pferderücken.
Die junge Frau ist 19 Jahre alt und heisst Leonie Linsbichler. Sie ist ein aufstrebendes Talent in ihrer Disziplin, dem Voltigieren. Das ist akrobatisches Turnen zu Musik auf dem galoppierenden Pferd. Die Volketswilerin trainiert seit zwölf Jahren beim Verein Voltige Bietenholz in Effretikon. In der Sechsergruppe oder einzeln zeigen sie und ihr Team von fünf weiteren jungen Frauen ihre Kür an Meisterschaften in ganz Europa. Jetzt ist Winterpause – die Athletinnen und ihre Pferde bereiten sich auf die Turniersaison vor, die im April beginnt.
Hoch zu Bock
Bevor Leonie Linsbichler und ihre Teamkolleginnen ihr Training in der Reithalle beginnen, üben sie «im Trockenen». Also nicht auf dem Pferd, sondern in einem geheizten Raum einer Baufirma in Effretikon. Um ihre Akrobatik-Übungen zu trainieren, nutzen sie einen sich mechanisch bewegenden Bock, das Racewood. Die ruckartigen Bewegungen der Maschine ahmen den Rücken eines galoppierenden Pferds nach.
Mit konzentriertem Blick turnen die Frauen auf dem Bock, ihre Muskeln spielen, während sie im Handstand oder auf einem Bein auf dem wackelnden Racewood balancieren. Leonie Linsbichler ist direkt von der Arbeit zum Training gefahren – wie sie das vier- oder fünfmal die Woche macht. Wenn am Wochenende kein Turnier ansteht, wird auch dann trainiert.
«Dieser Sport bedeutet mir alles», sagt sie. «Wenn ich trainiere, kann ich abschalten und meinen Gefühlen freien Lauf lassen.» Dass sie für den Sport all ihre Freizeit hergeben muss, stört sie nicht: «Im Stall zu sein, zähle ich als Zeit für mich.» Dazu opfert die angehende Polydesignerin 3D auch vier ihrer fünf Ferienwochen für Turniere.
Möglich wird dieses Engagement durch den Rückhalt aus ihrem Umfeld. «Meine Mutter, meine Lehrmeisterin, mein Freund und meine Trainerin unterstützen mich fest», so Linsbichler. Letztere ist nun auch im Trainingsraum und gibt Linsbichler Hilfestellung auf dem Racewood.
Ein teurer Sport
Nach dem Trockentraining geht es in die Reithalle ausserhalb des Dorfs. Dort wird als Erstes das Pferd vorbereitet: Es wird unter einer grossen Wärmelampe gebürstet, anschliessend wird es sofort mit Magnetfelddecken zugedeckt, die die Muskulatur lockern. «Das Pferd soll nie kalt haben», erklärt Linsbichler.
Voltige verlangt nämlich nicht nur viel von den Akrobatinnen, sondern auch von den Pferden. «Ein Pferd muss lange trainiert werden, bis es die nötige Muskulatur, aber auch die Ausdauer für den Sport hat», sagt Linsbichler.
Der Sport ist auch nicht günstig. «Meine Eltern unterstützen mich finanziell», so Linsbichler. Ihre Sponsoren sind die Firmen von ihrer Trainerin und deren Mann. Seit Kurzem gehört auch eine grosse Fast-Food-Kette zu ihren Geldgebern.
Ist das Pferd vorbereitet, bereiten sich auch die Menschen vor. Während die Trainerin das Ross langsam im Kreis laufen lässt, sprinten die Athletinnen in der Reithalle hin und her, machen Dehnübungen oder turnen an Geräten.
Danach geht es los: Während das Pferd, ohne anzuhalten, im Kreis um die Trainerin galoppiert, rennt Leonie Linsbichler ihm hinterher, holt auf, packt den Griff am Voltigiergurt und schwingt sich mühelos auf das rennende Ross. Während es seine Runden dreht, übt Linsbichler ihre Kür aus Sprüngen, Tanzelementen und akrobatischen Figuren.
«Auf dem Pferderücken fühle ich mich frei», sagt Linsbichler. Dieses Gefühl hat sie bis auf die grössten Bühnen der Welt begleitet: An drei Weltmeisterschaften durfte sie bereits teilnehmen – in den Niederlanden, Frankreich und Schweden. Die letzte, bei der sie mit ihrem Team den zweiten Platz belegte, blieb ihr am meisten in Erinnerung: «Die Halle bebte vom Applaus und Jubel der Zuschauer, als wir mit der Schweizer Fahne reinrannten», schwärmt Linsbichler. «Da wusste ich: Jetzt haben wir es geschafft.»
Diese Erfahrung hat Linsbichler auf den Geschmack des Erfolgs gebracht. «Mein Ziel ist es, an die Weltspitze zu kommen», sagt sie. Ihre Trainerin Simone Aebi, selbst mehrfache Schweizer, Europa- und Weltmeisterin, schätzt ihr Ziel als realistisch ein. «Langfristig ist mit Leonie noch sehr viel möglich», sagt sie. «Sie ist extrem motiviert und ehrgeizig.»
Der Kampf gegen sich selbst
Mit solchen Ambitionen geht aber auch eine hohe Belastung einher. «Ich mache mir selbst grossen Druck», sagt Linsbichler. Sie versucht Sport, Arbeit, Schule und Beziehung unter einen Hut zu bringen.
Einmal hätte sie der ganze Druck fast zum Aufgeben gebracht: «Als ich an der Weltmeisterschaft in Schweden bei einem Durchgang fast Erste geworden wäre, wurde der Druck auf mich noch grösser. Dadurch wurde ich nervös, und mein Pferd stolperte dann bei der darauffolgenden Kür.» In der Rangliste fiel sie um acht Plätze zurück. «Ich hatte mir damit meinen Weg zur Spitze versaut», sagt Linsbichler.
Aufgegeben hat sie aber trotzdem nicht. Schliesslich erfordert Voltigieren nicht nur Kraft und Balance, sondern auch Leidenschaft und Ausdauer.