Über 170’000 Zürcher Kinder und Jugendliche starten am Montag ins neue Volksschuljahr. Rund 11’000 Schülerinnen und Schüler gehen aber nicht in eine öffentliche, sondern in eine private Schule. 200 gibt es inzwischen im Kanton Zürich. Die Tendenz: steigend.
Weshalb Eltern ihre Kinder in eine Privatschule schicken, zeigt etwa die Geschichte der Horgner Familie Müller (Name geändert) mit drei Buben.
Der mittlere Sohn sei in der Volksschule gemobbt worden, sagt die Mutter. Als die Situation nach dem Lockdown nicht besser wurde, entschied sie, ihn für die 5. Klasse an einer Privatschule in Zürich-Oerlikon anzumelden.
25’000 Franken im Jahr
«Für mich war eine Privatschule alles andere als der Wunschweg. Ich empfand dies immer als etwas Elitäres», sagt die Mutter. Überzeugt habe die Familie, dass ihr Sohn mit den gleichen Lehrmitteln habe weiterarbeiten können und der Unterricht in kleinen Gruppen stattgefunden habe.
Der Weg über die Privatschule kostete die Familie Müller einiges: Pro Jahr und Kind verlangte die Privatschule ihrer Wahl 22’000 bis 25’000 Franken.
Die Allgemeinheit zahlte daran nichts. Eine Volksinitiative, die die staatliche Finanzierung von Privatschulen forderte, scheiterte 2012 mit einem wuchtigen Nein-Anteil von 82 Prozent.
Quote ist in der Sek höher
Trotz der hohen Kosten ist die Privatschulquote im Kanton Zürich seit der Jahrtausendwende gestiegen. Im Schuljahr 2000/01 betrug sie 4,6 Prozent, 2022/23 lag sie bei 6,3 Prozent. Aktuellere Zahlen wurden noch nicht veröffentlicht. Damit liegt Zürich gemäss dem aktuellen Bildungsbericht Schweiz über dem landesweiten Durchschnitt von 4,6 Prozent.
Die Quote variiert je nach Schulstufe. Im Kindergarten und in der Primarschule lag sie in den letzten Jahren zwischen 5 und 6 Prozent, auf Sekundarstufe beträgt die Privatschulquote seit Anfang der 2010er-Jahre mehr als 10 Prozent.
Vielerorts ist der Anteil Privatschülerinnen und -schüler sehr tief. In Winterthur zum Beispiel übertrifft auf Primarschulstufe nur der Schulkreis Stadt-Töss den kantonalen Durchschnitt von 5,3 Prozent. In 14 der 156 Primarschulgemeinden ging im Schuljahr 2022/23 kein einziges Kind in eine Privatschule.
Populär sind die (internationalen) Privatschulen aber seit je in den Zürichseegemeinden, wo viele Vermögende und Expats wohnen. In Zumikon geht jedes fünfte Primarschulkind in eine private Schule, in Küsnacht ist es jedes sechste und in Kilchberg jedes siebte Kind. Eine ähnliche Quote erreicht in der Stadt Zürich der Schulkreis Zürichberg.
Neben den klassischen Topverdienergebieten fallen punkto Privatschulen ein Zürcher Schulkreis sowie eine weitere Schulgemeinde auf.
Ausnahmequartiere Enge und Wiedikon
In Zürich ist es der Schulkreis Uto, der den Kreis 2 und Teile des Kreises 3 umfasst. Auf Primarschulstufe gehen gut 19 Prozent der Kinder in Privatschulen. Schulpräsidentin Jacqueline Peter hat eine schlüssige Erklärung für die hohe Quote: Viele jüdische Familien schicken ihre Kinder in private jüdische Schulen. Vor allem in den Quartieren Enge und Alt-Wiedikon, wo auch viele jüdisch-orthodoxe Familien zu Hause sind, ist die Privatschulquote hoch.
Im Schulkreis Uto ist die Quote an der Sekundarschule noch höher. Fast 27 Prozent der Jugendlichen gehen in private Schulen, also gut jede und jeder Vierte. Schulpräsidentin Peter erklärt den Unterschied zur Primarschule so: «Vermutlich nehmen viele Eltern an, dass ihre Kinder an privaten Sekundarschulen besser auf die Prüfung für das Kurzgymnasium vorbereitet werden.»
On parle français à Dübendorf
Die zweite grosse Auffälligkeit betrifft Dübendorf. Hier stieg die Privatquote bei den Primarschulkindern in weniger als 20 Jahren von 3 auf knapp 15 Prozent.
Auch im Fall Dübendorf ist die Erklärung schnell gefunden: Das private Lycée Français Marie Curie ist vom Dübendorfer Ortsteil Gockhausen ins besser erschlossene Boomquartier Hochbord gleich an der Zürcher Stadtgrenze umgezogen und hat sich 2016 stark vergrössert. Es bietet neu mehr als 1100 Schülerinnen und Schülern Platz und zieht Französischsprachige von weither an.
Mit dem Umzug kamen plötzlich andere Leute nach Dübendorf. Schulpräsidentin Susanne Hänni berichtet von vielen Expat-Zuzügen im Quartier Hochbord. «Zeitweise ging jedes zweite neu zugezogene Kind in diesem Quartier in eine Privatschule, vor allem ins Lycée Français», sagt sie.
Hoffnung auf Übertritt ins Gymi
Die Schulpräsidentin hat einen weiteren Trend beobachtet. Zahlreiche Eltern schicken ihre Kinder ab der 6. Klasse in eine Privatschule – «wohl in der Hoffnung auf bessere Noten». Hänni hat festgestellt, dass der Druck vonseiten der Eltern, dass es ihr Nachwuchs ins Gymi schafft, über die Jahre zugenommen hat. Vielen dieser Eltern fehle auch das Verständnis für das Schweizer Berufsbildungssystem.
Hänni sieht aber auch Mängel bei der Volksschule, die den Run auf Privatschulen begünstige. So kamen viele neue Fächer und Inhalte hinzu wie die zweite Fremdsprache oder die Informatik. Der Stundenplan einer Fünftklässlerin zeige, dass eine Grenze erreicht oder gar überschritten worden sei. Es sollte wieder mehr auf die Kernkompetenzen fokussiert werden, findet Hänni.
Als kritisch bezeichnet sie die Ergebnisse der aktuellen Pisa-Studie, wonach ein Viertel der Schweizer Schülerinnen und Schüler am Ende der Schulzeit grosse Defizite beim Lesen aufweisen.
Chancengleichheit «massiv» beeinträchtigt
Die Bildungswissenschaftlerin Katharina Maag Merki von der Universität Zürich betrachtet Privatschulen kritisch. Viele hätten zwar gelernt, dass die Preise sinken müssten, um für alle offen zu sein. Oder dass Familien finanziell unterstützt werden müssten. «Dennoch kann sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung den Besuch einer Privatschule leisten», sagt Maag Merki.
Deshalb sieht sie die Chancengleichheit «massiv» beeinträchtigt. Maag Merki verteidigt die Volksschule. Sie sei ein «wunderbares System», weil in der Primarschule alle Schichten der Gesellschaft in einem «wichtigen Austausch» stehen. «Dort kommt es noch nicht zu einer Sortierung von gleichen Werten oder Bildungshintergründen.»
Privatschulen als Versuchslabor
Die Nachteile von Privatschulen liessen sich aber auch in anderen Ländern beobachten. Als Beispiel nennt Maag Merki England, wo es häufig zu einer Benachteiligung von Kindern komme, die eine öffentliche Schule besucht hätten. Der Grund: Viel Geld werde in Privatschulen investiert, und dieses Geld fehle in der Folge für das öffentliche Bildungssystem.
Einen Vorteil von Privatschulen sieht die Bildungsspezialistin aber trotzdem: «Die Volksschulen können davon profitieren, dass neue Konzepte in kleinen Systemen ausprobiert werden.»
Sprache, Ausrichtung, Gymi-Förderung, Unmut über die Volksschule: Die Motive, Kinder in eine Privatschule anstatt in die Volksschule zu schicken, sind vielfältig. Bei der Familie Müller aus Horgen war es der Kampf gegen das Mobbing.
Für sie hat sich der Entscheid gelohnt. Der Jugendliche geht inzwischen in eine öffentliche Kantonsschule. Und weil die Erfahrungen mit der Privatschule so positiv waren, schickten sie auch gleich ihren jüngsten Sohn dorthin. Auch er ist jetzt im Gymi.