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Erinnerungen, wo man hinschaut: Eine wunderliche Mischung macht den Charme des Bauteillagers aus. Foto: Boris Müller

Bauteillager der besonderen Art

Die Wunderkammer der Zürcher Denkmalpflege ist in Dübendorf

In Zürich werden unzählige Häuser abgerissen oder umgebaut. Davor kommen manche Objekte, die Geschichten erzählen, ins Bauteillager in Dübendorf.

Erinnerungen, wo man hinschaut: Eine wunderliche Mischung macht den Charme des Bauteillagers aus. Foto: Boris Müller

Veröffentlicht am: 02.08.2024 – 09.34 Uhr

Einer der Lieblingsgegenstände von Sandrine Keck ist ein grosses C. Es war einst das blau leuchtende Neon-C des Cinemas Apollo. Ihre Kollegin Viviane Mathis würde sich für das blaue Sofa entscheiden, das in einem Hochregal eingestellt ist. Es stand einst im Kongresshaus.

Keck ist Leiterin des Bauteillagers der kantonalen Denkmalpflege Zürich, Viviane Mathis Projektleiterin Vermittlung. Das Bauteillager ist eine Art Wunderkammer der Denkmalpflege. In der riesigen Halle in der Nähe des Bahnhofs Stettbach werden seit 2009 unzählige historische Bau- und Ausstattungsteile aufbewahrt.

Sie stammen hauptsächlich aus geschützten Gebäuden, die im Kanton Zürich abgerissen oder umgebaut werden sollen. In solchen Fällen wird die Bauberatung aktiv.

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Im Vordergrund warten Neuzugänge auf die Erfassung. Das aufwendig gestaltete Gitter stammt aus der Villa Seerose in Horgen. Foto: Boris Müller

Die Bauberatung schätzt ab, ob Bauteile, die beispielsweise aus feuerpolizeilichen Gründen ersetzt werden müssen, für das Bauteillager geeignet sind. So geschehen bei Viviane Mathis’ Wunschsofa aus dem Kongresshaus, das dort als Sicherheitsrisiko eingestuft wurde. In einer normalen Stube könnte es problemlos weiterverwendet werden.

Es melden sich aber auch Architektinnen und Architekten oder Stiftungen, die mit bauhistorisch wertvollen Objekten zu tun haben.

Recycling der besonderen Art

Die einen Objekte werden als sozial- oder kulturhistorische Zeugen in eine Studiensammlung aufgenommen, die im Alterthümer-Magazin beim Bahnhof Selnau zu besichtigen sind. Die meisten aber warten darauf, dass sie bei der Renovation oder Ausstattung von stilistisch passenden Schutzobjekten wiederverwendet werden können.

Zwei Frauen in einer Werkhalle.
Viviane Mathis (links) und Sandrine Keck könnten stundenlang Geschichten über die Objekte erzählen, die hier lagern. Foto: Boris Müller

So musste das originale Tafelparkett weichen, als das 1898 erstellte Haus zur Trülle an der Stadtzürcher Bahnhofstrasse renoviert wurde. Es wurde ins Bauteillager gebracht und unterdessen in einer Villa in Rüschlikon aus derselben Epoche wiedereingebaut.

«Unser erklärtes Ziel ist die Wiederverwendung», sagt Sandrine Keck, während sie eine breite Schublade öffnet. Darin lagern lauter «Fenstermännchen», die in älteren Häusern dazu dienten, die Fensterläden zu arretieren. In einer anderen Schublade sind Zahnputzgläserhalterungen aufbewahrt, in einer Kiste nebenan Siphons.

Ein Drache von der Klosterinsel

Neben solchen Alltagsgegenständen gibt es auch künstlerisch Wertvolles. Ein riesiger Wasserspeier in Form eines Drachen aus dem Jahr 1780 steht vor einem Hochregal. Er stammt von der Klosterinsel Rheinau. Eine neugotische Kanzel aus der katholischen Kirche Adliswil steht vor einer Wand mit lauter Fensterrahmen.

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Jedes Objekt hat eine Geschichte. Die Holzteile in der Mitte gehören zu einer 1911 in neugotischem Stil gefertigten Kanzel, die in der katholischen Kirche von Adliswil stand. Foto: Boris Müller

An einer Wand hängen Jugendstilfenster aus der extravaganten Villa Sumatra. Vor den Fenstern stehen Kachelöfen aus verschiedenen Epochen. «Die Kachelöfen, aber auch ältere Heizungsradiatoren sind ziemlich gefragt», sagt Keck.

Bauboom macht sich bemerkbar

In den letzten Jahren kamen besonders viele Bauteile aus Stadtzürcher Liegenschaften ins Bauteillager. Das spiegelt die rege Bautätigkeit. 2023 wurden 236 Neuzugänge erfasst, im Schnitt der letzten Jahre waren es etwa 140.

Umgekehrt nimmt aber auch die Nachfrage zu, weil viele geschützte Gebäude renoviert werden. So seien beispielsweise Türfallen aus den 1960er-Jahren gefragt, erzählt Keck.

Ob ein Objekt aufgenommen oder wiedereingebaut wird, diskutiert das dreiköpfige Team, das sich 170 Stellenprozent teilt, jeweils im Plenum. «Bedingung für einen Wiedereinbau ist, dass der neue Verwendungsort ebenfalls einen Schutzstatus hat», sagt Sandrine Keck. Über den Preis werde situativ entschieden. «Der Verkaufspreis muss die Bergungs- und Lagerkosten decken.»

Ein Rundgang als Zeitreise

Ein Rundgang durch das Bauteillager ist eine Zeitreise: Zug-Fahrpläne aus dem Jahr 1938, die bei den Arbeiten in der Kaserne hinter den Tapeten hervorkramen. Ein Fenster des heutigen Eckgebäudes am Central (Limmatquai 144), das ein Schreiner in den 1970er-Jahren nach dem Umbau des Polybähnlis in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus einer Baumulde rettete und in seinem Estrich aufbewahrte.

Wenige Meter voneinander entfernt stehen eine Madonna mit Kind aus der katholischen Kirche Adliswil aus dem frühen 20. Jahrhundert und ein Holzpfosten mit Widderkopf aus der Villa Paracelsus. Im Moment kommen gerade zahlreiche Bauteile aus dem Umbau des Hauptbahnhofs Süd dazu.

Fünf Objekte und ihre Geschichte

«Jedes einzelne Objekt hat seine Geschichte», sagt Viviane Mathis. Und es wird, wenn es wiederverwendet wird, eine neue Geschichte schreiben. Wir haben fünf ausgesucht, die viel über Zürichs Wandel aussagen.


1. Das C des Cinemas Apollo

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Eine der letzten noch funktionierenden Argon-Quecksilber-Neon-Leuchtröhren der Schweiz. Foto: Boris Müller

Der Arbeiter sollte die Neonbuchstaben CINEMA APOLLO abmontieren, bevor das Kino an der Stauffacherstrasse 41 dem Erdboden gleichgemacht wird. Das war 1988.

Der Fotograf, der vom baugeschichtlichen Archiv beauftragt worden war, den Abbruch zu dokumentieren, wollte die Buchstaben in der Mittagspause retten, schaffte es aber über das Fenster im Obergeschoss und am Boden kriechend über das Dach nur zum C und zum A.

Schwarz-weiss Foto eines Gebäudes.
1928 gebaut, sechzig Jahre später abgerissen: Mit 2000 Plätzen einst das grösste Kino der Stadt. Foto: PD

2000 Sitzplätze bot das Apollo, das 1928 durch den Kinomogul Eugen Scotoni gebaut wurde. Es war nicht nur das grösste Kino Zürichs, es verfügte auch über die grösste Kinoorgel Europas, auf der die Stummfilme live begleitet wurden.

Sie hatte 2000 Pfeifen und war mit Lichteffekten verbunden und konnte auch Spezialtöne wie Sturm, Vogelgezwitscher oder zerberstendes Geschirr hervorbringen.

Im Cinema Apollo nahmen bei Filmpremieren Sophia Loren, Audrey Hepburn oder Elizabeth Taylor persönlich die Ovationen entgegen.

Feiernde Personen.
Premierenfeier im Apollo (von links): Lys Assia, Moses LaMarr, Eunice Gayson, Anton Eric Scotoni, Sophia Loren, Van Johnson, Alice Scott, Richard Widmark, Trevor Howard. Foto: ETH-Bildarchiv

Heute steht anstelle des Kinos ein Geschäftshaus der UBS. Geblieben ist dieses C im Bauteillager. Es leuchtet blau, wenn es an den Strom angeschlossen ist. Es handle sich, so führt der international gefragte Spezialist für Neonanlagen Marcus Thielen aus, um eine der letzten noch funktionierenden Argon-Quecksilber-Neon-Leuchtröhren der Schweiz.


2. Der Rolls-Royce der Kochherde

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Ein Therma-Kochherd, Jahrgang 1971, mit damals ultramodernen Knöpfen. Foto: Boris Müller

So einer stand doch in der Küche meiner Grossmutter! Diese Erinnerung mag der Anblick des Kochherdes, der einst in einer Küche an der Winterthurerstrasse 572 in Schwamendingen stand, bei manchen auslösen.

Ein Besucher des Bauteillagers, der in der DDR aufgewachsen ist, sieht das enthusiastischer: «Der Rolls-Royce der Kochherde» sei das damals gewesen. Vor allem wegen der ultramodernen durchsichtigen Drehknöpfe, die sonst vor allem in der Autoindustrie zum Einsatz gekommen seien. Die Schweizer Firma Therma habe diese sogar für Skoda produziert.

Aber eigentlich war Therma auf Haushaltsgeräte spezialisiert. In den 1930er-Jahren trugen mehr als zwei Drittel aller Haushaltapparate in der Schweiz dieses Label. Am Ende des Zweiten Weltkriegs beschäftigte Therma an ihrem Hauptsitz im Glarner Schwanden über 1000 Mitarbeitende.

1978 aber wurde sie von Electrolux übernommen, 2005 eingestellt. Geblieben ist dieser Kochherd.


3. Der Löwe, der Rätsel aufgibt

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Woher stammt dieser Löwe? Hinweise sind willkommen. Foto: Boris Müller

Er ist massiv, schaut grimmig und dürfte ein echter Zürileu sein. Nur, wo stand er einst? Leider wurde versäumt, dies zu erfassen, als der tonnenschwere Steinlöwe 2013 in der Datenbank aufgenommen wurde.

Umfangreiche Recherchen des Bauteillagerteams haben nur ergeben: Es handelt sich wahrscheinlich um eine Balkonkonsole aus einer Zürcher Villa. Vielleicht stand diese im Seefeld. Vielleicht.

Übrigens: Die älteste Abbildung von Löwen im Zusammenhang mit dem Zürcher Wappen stammt aus der Zeit um 1490/1500 auf einer Wappenscheibe, die heute im Landesmuseum aufbewahrt wird. Dort fungieren sie lediglich als Schildhalter. Zur Hauptfigur im Zürcher Wappen stieg der Löwe erst kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf.


4. Der Pfosten aus der verschwundenen Villa

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Der Holzpfosten stellte einst den Abschluss einer Treppe dar, die Julius Maggi hinauf- und hinunterschritt. Foto: Boris Müller

Dieser fein gedrechselte Holzpfosten mit floralem Motiv stand einst am Treppenabsatz in einer der speziellsten Villen Zürichs: der Villa Sumatra. Julius Maggi (1846–1912) gestaltete 1875/76 die Villa nach seinem extravaganten Geschmack um und aus. Das Geld dafür hat er unter anderem einem Suppenwürfel zu verdanken.

Der ehemalige Zürcher Kantonsrat Julius Maggi kreierte 1886 eine Würze, um seine Fertigsuppen zu verfeinern.

Später wurde Julius Maggi durch Milchprodukte und Brühwürfel sehr reich, siedelte nach Paris über und führte ein mondänes Leben. 1947 fusionierte Maggi mit der heutigen Firma Nestlé. Die Villa wurde erst als Pension genutzt und brannte 1970, kurz vor dem geplanten Abbruch, ab. Geblieben ist der Name der Strasse, an dem sie einst stand: Sumatrastrasse. Und dieser Treppenantrittspfosten.


5. Angesagte, aber nicht noble Platten

Bodenfliesen
Zusammen gepuzzelt: So sah einst der Bodenbelag in der Spinnerei Blumer aus. Foto: PD

Sie wurden damals in Massenproduktion nach einem speziellen Verfahren im französischen Sarreguemines hergestellt. Die mit Metalloxiden eingefärbte Tonmasse wurde unter sehr hohem Druck zu einer Fliese gepresst. Dadurch trocknete sie schnell, die Oberfläche war glatt und verzog sich kaum während des Brennens.

Meistens werden solche Fliesen beim Abbruch von Häusern achtlos entsorgt. Doch einige finden den Weg ins Bauteillager. Dann stehen sie neben Drachen aus der Rheinau, Sofas aus dem Kongresshaus und grimmigen Steinlöwen. So lange, bis sie mit etwas Glück in Wohnungen oder Werkstätten, in die sie von der Zeit her gehören, wieder ihren Zweck erfüllen.

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