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Gesellschaft
Ein Mann steht vor einem zerbombten Gebäude.

Marc K. leistet im Osten der Ukraine humanitäre Hilfsarbeit. Für den 41-Jährigen ist es der einzig richtige Weg, den Betroffenen zu helfen. Foto: PD

Hilfseinsatz in der Ukraine

«Mein ganzer Körper schaltet in den Überlebensmodus»

Marc K. fährt regelmässig in die Ukraine, um Kriegsopfern zu helfen. Seine Einsätze werden vom Dübendorfer Verein Help2Ukraine.ch koordiniert. Einblicke in einen Alltag, dessen Ausgang stets ungewiss ist.

Marc K. leistet im Osten der Ukraine humanitäre Hilfsarbeit. Für den 41-Jährigen ist es der einzig richtige Weg, den Betroffenen zu helfen. Foto: PD

Veröffentlicht am: 21.06.2024 – 11.54 Uhr

«Eine Stunde lang regnete es Bomben. Dann kamen die Panzer. Und du kannst nichts tun, ausser abzuwarten und zu beten. Das sind Momente, die mir einfahren, und ich merke: Ich bin im Kriegsgebiet in der Ukraine. Und nicht im Partyurlaub auf Mallorca.»

Marc K. spricht mit ruhiger, aber müder Stimme. Der 41-Jährige verbrachte die letzten zwei Wochen im Osten der Ukraine, um Menschen im Kriegsgebiet zu helfen. Wohnort und vollständiger Namen bleiben anonym. Zu gross sei das Risiko, dass das russische Regime ihn aufspüren könnte. «Ausländische Helfer werden von russischer Seite gezielt mit einem Kopfgeld von mehreren tausend Franken verfolgt.»    

Einsatz aus nah und fern

Marc K. ist für den Dübendorfer Verein Help2Ukraine.ch im Einsatz. Dieser wurde im Jahr 2023 von den Ukrainerinnen Olga Kostenko, Olena Kmita und Halyna Yakovenko gegründet. Sie sind Kriegsflüchtlinge; als Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, änderte sich das Leben der drei Frauen für immer.

Zwei Frauen sitzen einem Mann gegenüber. Den Mann sieht man nur von hinten.
Olga Kostenko (links) und Halyna Yakovenko sprechen mit Marc K. über dessen nächsten Einsatz. Foto: Seraina Boner

Kostenko kommt aus der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Sie war mit Freunden auf einem Ausflug, als russische Truppen ihr Wohngebiet besetzten und ihr Haus zerstörten. Bombenhagel und Angriffe gehörten zur Tagesordnung. Sie sah keine andere Wahl, als ihre Heimat zu verlassen. Seit Anfang März 2022 wohnt sie mit ihrem Sohn in der Schweiz – und leistet von hier aus unermüdlichen Einsatz, um ihren Landsleuten zu helfen.

Fehlende Hilfsgüter und tägliche Angriffe

Das Hauptziel von Help2Ukraine.ch ist es, Leben zu retten. «An vielen Orten fehlt es aber an medizinischen Hilfsgütern und Transportmöglichkeiten», weiss Olga Kostenko.  

So kam es, dass der Verein im letzten Dezember einen Krankenwagen aus Deutschland in die Ukraine überführte. «So können Verwundete in Spitäler gebracht werden, wo grössere Operationen möglich sind», führt Kostenko aus.

Man habe dank dem Krankenwagen über 50 Menschen das Leben retten können. Bis dieser am 14. Februar in Selydowe durch russische Raketen zerstört wurde. Nach dem Angriff wurde besagter Krankenwagen abgeschleppt und in einer Werkstatt wieder zusammengeflickt – auch aus Teilen von anderen zerstörten Ambulanzfahrzeugen. 

Ein zerbeulter Krankenwagen wird von einem Lkw abgeschleppt.
Bei einem Angriff auf Selydowe wurde der Krankenwagen zerstört. Dank Mechanikern vor Ort konnte er mit Teilen von anderen zerstörten Wagen repariert werden. Foto: Marc K.

Marc K. hat den Angriff vom 14. Februar selbst miterlebt und half bei der Evakuierung des örtlichen Spitals. Kriegsangriffe gehören zu seinem Alltag in der Ukraine; er erlebt die Kämpfe zwischen den beiden Ländern hautnah. «Ich befinde mich teilweise so nahe an der Front, dass ich täglich mit Bomben, Panzern und Kugelhagel konfrontiert bin.»

In solchen Momenten sei es das Adrenalin, das ihn funktionieren lasse. «Ich halte einfach durch, denke nicht darüber nach, was gerade passiert – mein ganzer Körper schaltet in den Überlebensmodus.»

Ans Chaos gewöhnt

So auch, als er mit einem Team und drei Bussen auf dem Weg in den Osten der Ukraine war und beschossen wurde. Einen Bus mussten sie zurücklassen, er wurde beim Angriff zerstört. Kein Grund für Marc K., die Mission abzubrechen. «Was wäre denn meine Alternative gewesen – umzukehren und nicht zu helfen? Damit ist weder mir geholfen noch den Menschen vor Ort.»

Trotz dieser Einstellung holt ihn das Erlebte manchmal ein. Vor allem, wenn er zurück in der Schweiz ist, heiss duschen konnte und in seinem Bett liegt. «Es ist nicht einfach, das privilegierte Leben hier in der Schweiz wieder anzunehmen. Ich habe mich an die chaotischen Zustände in der Ukraine gewöhnt.»

So sei er zum Beispiel erschrocken, als ein Lift eigenartige Geräusche gemacht habe. «Mein erster Impuls war: Bombenalarm! Erst im zweiten Moment habe ich realisiert, dass ich in der Schweiz bin.»

Ein Moment Normalität

Doch auch im Kriegsgebiet gebe es Momente, in denen die Normalität kurz zum Vorschein komme. Marc K. erinnert sich an eine Nacht vor einer geplanten Spital-Evakuation. «Ich sass mit anderen Helfenden und Krankenschwestern zusammen, wir tranken Wodka und unterhielten uns über alles ausser den Krieg.»

Allgemein erlebt er die Menschen vor Ort – ob Soldaten, Einheimische oder Helfende aus verschiedensten Organisationen und Ländern – meist als freundlich und zuvorkommend. Die Ukrainer lassen fremde Menschen in ihren Häusern übernachten oder bereiten Essen für sie zu.

Dennoch sei immer Vorsicht geboten, gerade als Ausländer. «Ukrainische Soldaten nahmen mich in Gewahrsam, weil ich verdächtigt wurde, ein russischer Separatist zu sein.» Dank der Hilfe eines ukrainischen Soldaten, der zum Freund von Marc K. geworden ist, konnte er sich aus der misslichen Situation befreien. 

Trotz all dem Erlebten steht es für ihn ausser Frage, immer wieder in das Krisengebiet zurückzukehren. Es sei der einzige Weg, wirklich zu helfen. «Eine Ukraine-Flagge auf Instagram und Twitter zu posten, rettet keine Leben.» 

Eine Kritik, die er an die Gesellschaft, aber vor allem an grosse Firmen richtet. «Viele haben damals Geld gespendet oder sich auf ihrer Website für die Ukraine ausgesprochen, weil es ihrem Image half. Jetzt, zweieinhalb Jahre nach Kriegsausbruch, will niemand mehr helfen.»

Oft werden Spendenanfragen ignoriert oder in unwirschem Ton abgewiesen. Marc K. vermutet, dass das Bewusstsein für die Situation in der Ukraine fehlt. «Viele haben ein falsches Bild vor Augen. In den hiesigen Medien spielt der Konflikt keine so grosse Rolle mehr. Fakt ist aber, es ist immer noch Krieg. Es sterben täglich Menschen, es fehlt an Hilfsgütern und medizinischer Unterstützung.»

Ein Blick in ein Wohnzimmer, das von Trümmern übersät ist.
Zerstörung, wo einst Menschen gewohnt haben: Der Krieg zwingt sie, ihr Zuhause zu verlassen. Foto: Marc K.

Olga Kostenko, Präsidentin des Vereins Help2Ukraine.ch, kann den Unmut von Marc K. verstehen. Sie räumt aber ein, dass es schwierig sein könne, die Situation aus der Distanz richtig einzuordnen. Dennoch sieht sie davon ab, Diskussionen zu führen. «Ich möchte meine Energie in Menschen investieren, die helfen wollen und können. Es ist wichtig, Synergien zu nutzen und Netzwerke aufzubauen; so können mehr Leben gerettet werden.»

Medizinische Grundversorgung und Solarzellen

Leben retten – dieser Mission hat sich Marc K. verschrieben. Wenn dieser Artikel erscheint, ist er bereits zurück in der Ukraine. «Der Verein konnte eine namhafte Firma als Partner für medizinische Projekte gewinnen. Am 14. Juni wurde ein Lastwagen mit medizinischen Gütern beladen – kurz darauf ging es auch schon los.»   

Der Verein will medizinische Notfallzelte nahe den Städten Chasiv Yar und Konstantinovka errichten. «So soll eine erste medizinische Grundversorgung inmitten eines umkämpften Gebiets sichergestellt werden.»   

Weiter liegt der Fokus auf dem Einbau von Solarzellen bei Häusern ohne Strom. «Damit betroffene Menschen um Hilfe rufen oder sich von Verwandten verabschieden können im Falle eines Angriffs.»

Der Tod ist im Wirken von Marc K. ein ständiger Begleiter. Ein Fakt, den er akzeptiert hat. Hat er dennoch Angst vor dem Tod? Marc K. denkt einen Moment nach. «Ja», sagt er dann. Und im gleichen Atemzug: «Ich nehme den Tod für meinen Glauben an Prinzipien in Kauf.»

Spendenaufruf des Vereins Help2Ukraine.ch

Der Verein Help2Ukraine.ch sammelt Spendengelder, um die Hilfsprojekte in der Ukraine zu finanzieren. Alle Informationen zu den Missionen des Vereins und darüber, wie man spenden kann, sind auf der Website des Vereins zu finden.

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