Was die Pflege eines Angehörigen bedeutet, wurde Marisa Steiner erst richtig bewusst, als die eigene Familie betroffen war. Während ihre Grossmutter vor ein paar Jahren immer mehr Unterstützung in alltäglichen Dingen benötigte, musste sich ihre Mutter plötzlich mit vielen Fragen befassen – was die Pflege anbelangt, aber auch in Bezug auf administrative und finanzielle Hilfe.
«Man muss sich alles bei verschiedenen Ämtern und Organisationen zusammensuchen, was sehr aufwendig war», erinnert sich Marisa Steiner, die in Dübendorf aufgewachsen ist.
Je tiefer sich die Juristin in das Thema einarbeitete, desto mehr erkannte sie das Ausmass der Probleme: «Pflegende Angehörige sind nicht nur häufig von einem Burn-out betroffen, sie haben gemäss einer Studie auch ein stark erhöhtes Armutsrisiko.»
Betroffen seien in der Regel Frauen, meist um die 50, die für die Pflege ihren Beruf aufgeben oder das Pensum reduzieren würden. Und dies führe nebst einer Lohneinbusse nach der Pensionierung dann noch zu Lücken in der Vorsorge.
Bundesgericht machte es möglich
Marisa Steiner fragte sich: Was kann man dagegen tun? Und so machte sie sich vor rund drei Jahren zusammen mit ihrem Partner Salomon Manz, ihrem Vater Paul Steiner und zwei Pflegefachfrauen an die Gründung einer Spitex für Angehörigenpflege.
Die Idee: Wer seine Angehörigen pflegt, soll dafür einen Lohn und Sozialversicherungsbeiträge erhalten. Dieser Ansatz war zu jener Zeit noch ziemlich neu, entsprechend kompliziert und aufwendig gestaltete es sich, die «Familienspitex», wie die Organisation heissen sollte, aus der Taufe zu heben.
Effektiv waren mehrere Bundesgerichtsurteile nötig, um die Angehörigenpflege in der Schweiz überhaupt zu ermöglichen.
Diese Menschen pflegen ihre Angehörigen oft schon seit Jahren und kennen deren Bedürfnisse ganz genau.
Marisa Steiner, Familienspitex
Starthilfe bekamen die Gründer von Hardy Landolt, in der «Szene» eine bekannte Grösse. Landolt ist Experte für Pflegerecht und Pionier in Sachen Spitex für pflegende Angehörige, auch er aus eigener Betroffenheit heraus. Ihn bezeichnen sie heute liebevoll als Götti.
Der Stundenlohn beträgt 37 Franken
Mittlerweile gibt es die Familienspitex mit Sitz in Dübendorf seit gut zwei Jahren, aktuell hat das junge Unternehmen mehrere Dutzend pflegende Angehörige aus dem Glattal und darüber hinaus angestellt – Tendenz steigend. Deren Stundenlohn beträgt 37 Franken, das ist etwas mehr als der Assistenzbeitrag der IV.
Eine eigentliche Ausbildung braucht es dafür nicht, wie Marisa Steiner festhält. «Diese Menschen pflegen ihre Angehörigen oft schon seit Jahren, die kennen die jeweiligen Bedürfnisse ganz genau.» Man ermutige jedoch zur Weiterbildung und verfüge hier auch über ein eigenes Angebot.
Viele Krankenkassen sind dem Modell gegenüber keineswegs abgeneigt, einige fördern die Angehörigenpflege mittlerweile gar.
Salomon Manz, Familienspitex
Zu Beginn der Zusammenarbeit wird eine Bedarfsabklärung gemacht, und es gibt eine ausführliche Einführung und Abklärung der Rundum-Situation der Familie. Eine Fachfrau aus dem Spitex-Team zeigt, wie die Pflege in Bezug auf Hygiene und Ergonomie optimiert werden kann – und begleitet die pflegenden Angehörigen als Ansprechperson später mit regelmässigen Besuchen.
Vieles bleibt unbezahlt
Angehörige übernehmen die Grundpflege, also Körperpflege, Hilfe bei der Nahrungsaufnahme, beim Ankleiden oder der Mobilisation. Ist darüber hinaus eine sogenannte Behandlungspflege wie Wundversorgung oder das Verabreichen von Medikamenten nötig, übernimmt die «normale» Spitex. Auch diese Aufgaben erledigen Angehörige laut Marisa Steiner häufig, einen Lohn erhalten sie dafür aber nicht.
Zwischen den beiden Organisationen gebe es keine Konkurrenz – im Gegenteil, sagt Salomon Manz: «Wir ergänzen uns, und die Spitex ist wegen des Personalmangels froh um die Entlastung in der Grundpflege.»
Manz ist in der Familienspitex der medizinische Leiter und für die Kommunikation und die Kostengutsprache mit den Krankenkassen zuständig. Klingt nach einer schwierigen Aufgabe. «Nicht unbedingt», winkt er ab, «viele Krankenkassen sind dem Modell gegenüber keineswegs abgeneigt, einige fördern die Angehörigenpflege mittlerweile gar.»
Ein echter Ersatz für eine herkömmliche Arbeit ist die Angehörigenpflege in vielen Fällen nicht. Pro Tag können meistens zwischen ein bis zwei Stunden als Arbeitszeit geltend gemacht werden, klar nach Tarifkatalog geregelt: Fürs Duschen mit Haare trocknen und Ankleiden können zum Beispiel 40 Minuten verrechnet werden. Reich wird man damit nicht. «Aber», so Manz, «es ist eine schöne Anerkennung für die geleistete Arbeit.»
Dazu kommen Sozialleistungen – wie etwa die sogenannten Betreuungsgutschriften. Das sind keine direkten Geldzahlungen, sie ermöglichen pflegenden Angehörigen aber, den Ausfall von Beiträgen an die AHV bis zu einem gewissen Punkt zu kompensieren und damit eine höhere Rente zu erreichen. Davon profitieren auch jüngere Betroffene, etwa Mütter von Kindern mit einer Behinderung.
Viele behördliche Vorgaben
Eine Spitex für Angehörige zu betreiben, sei ein komplexes Geschäft, das viele Ressourcen benötige, sagt Geschäftsführer Paul Steiner. «In der aufwendigen Gründungszeit hatten wir hohe Kosten.» Auch jetzt noch gelte es, viele behördliche Vorgaben zu bewältigen.
Die jeweiligen Beträge von der Krankenkasse werden nach einem Kostenabzug an die pflegenden Angehörigen weitergegeben. «Das meiste Geld, das wir verdienen, investieren wir gleich wieder ins Unternehmen», sagt Marisa Steiner.
Unter dem Strich lässt sich damit sehr viel Geld sparen, weil ältere Personen durch die Angehörigenpflege länger zu Hause bleiben können.
Paul Steiner, Familienspitex
Denn die junge Mutter will die Familienspitex zu einem Kompetenzzentrum für Angehörigenpflege ausbauen. «Der Gesetzgeber lässt zwar niemanden im Stich», sagt sie, «doch das Pflegerecht ist komplex.» Herauszufinden, welche finanzielle Unterstützung einem zusteht, sei für Privatpersonen überaus kompliziert und koste viel Zeit. Die Familienspitex bietet deshalb für «ihre» pflegenden Angehörigen gratis Rechtsberatung an.
Manchmal hilft der Austausch
Ebenso schwierig ist es laut Marisa Steiner, den Überblick über die Vielzahl an Entlastungsangeboten zu erhalten, die pflegende Angehörige nutzen können, also zum Beispiel Besuchs- und Begleitdienste, Fahrdienste oder Betreuungsurlaub. Zahlreiche Infos dazu sind auf der Website der Familienspitex aufgeschaltet.
Darüber hinaus will Marisa Steiner Unterstützung anbieten, damit sich pflegende Angehörige untereinander vernetzen können. «Manchmal hilft es am meisten, wenn man mit jemandem reden und Tipps austauschen kann, der in der gleichen Situation ist.»
Massnahme gegen Fachkräftemangel
Paul Steiner ist überzeugt, dass das Spitex-Modell für Angehörigenpflege in der Schweiz eine glänzende Zukunft hat. Dass dadurch Kosten entstehen, die ohne Lohnzahlung an pflegende Angehörige nicht anfallen würden, will Steiner, der sich im Dübendorfer Parlament stets für einen haushälterischen Umgang mit den Finanzen einsetzt, nicht in Abrede stellen.
«Unter dem Strich lässt sich damit aber sehr viel Geld sparen, weil ältere Personen durch die Angehörigenpflege länger zu Hause bleiben können.» Damit sei das Modell eine wirksame Massnahme gegen den Mangel an Fachkräften und Pflegeplätzen. Für Steiner ist deshalb klar: «Der Markt für pflegende Angehörige und die entsprechenden Spitex-Organisationen wird massiv wachsen.»