Die Busse und Trams leer, die Freibäder angenehm unbevölkert: Die Schweiz ist im Sommerferienmodus. Alle Schulkinder haben unterrichtsfrei, viele Familien sind verreist. Während in manchen Kantonen die unbeschwerte Zeit noch wochenlang andauert, füllen sich andernorts die Schulhäuser schon bald wieder. Doch ausgerechnet in jenem Kanton, in dem die langen Ferien schon im Frühsommer begonnen haben, nimmt die Volksschule ihren Betrieb als Letztes wieder auf. Noch bis Ende August haben die Tessiner Kinder schulfrei – das macht ganze zehn Wochen Sommerferien.
Das Tessin ist somit der Kanton mit der längsten schulischen Sommerpause. Bei weitem: Alle anderen Schweizer Schulkinder haben zwischen fünf und sieben Wochen Sommerferien. Auch im Jahrestotal führt der Südkanton die Rangliste an: 15 Wochen unterrichtsfreie Zeit übers Jahr verteilt, während es in den anderen Kantonen in der Regel 13 oder 14 Ferienwochen sind.
Egal in welchem Kanton – für berufstätige Eltern sind lange Ferien ein organisatorischer Aufwand. Wenn Schulhäuser und Kinderhorte geschlossen sind, müssen sie für die Betreuung die Grosseltern aufbieten, sich mit Nachbarn abwechseln oder den Nachwuchs ins Ferienlager schicken. Wäre darum weniger vielleicht mehr? Die Frage ist nicht neu, aber angesichts des gesellschaftlichen Wandels, der sich seit der Corona-Pandemie akzentuiert hat, darf sie neu gestellt werden. Alles wird flexibler – Arbeitsmodelle, Familienstrukturen, Unterrichtsformen – nur die langen Sommerferien bleiben ein unverrückbares und auf Jahre hinaus geplantes Fixum in den Schulkalendern.
Fast zumindest. Im Kanton Genf wurden die Sommerferien zu Beginn des Schuljahres 2022/2023 von acht auf sieben Wochen verkürzt, zugunsten einer Woche mehr Ferien im Frühling. Die Idee dahinter: die Kinder in der Unterrichtsperiode vor dem Sommer zu entlasten und ausserdem zu verhindern, dass sie das Erlernte in den langen Ferien vergessen. Der Massnahme war eine breite Umfrage unter den Familien vorausgegangen.
Angst vor Lernverlust in den Sommerferien
Nun liegt Genf mit sieben Wochen Sommerferien im schweizweiten Vergleich immer noch am oberen Ende der Skala. Trotzdem könnte der Fall für die anderen Kantone ein Beispiel abgeben, den Schulkalender zu überdenken. Befürworter sehen ein Potenzial, durch kürzere (Sommer-)Ferien das Schuljahr und den Unterrichtsplan zu entschleunigen, wenn man den Stoff auf mehr Wochen verteilen könnte.
Andere, zu ihnen gehört die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm, sehen in ausgedehnten Ferien eine Gefahr für die Chancengleichheit. Wenn sozial benachteiligte Kinder in den langen Sommerferien sich selbst überlassen sind, viel Zeit vor dem Computer oder am Handy verbringen oder nie Deutsch sprechen, können sie beim Schulanfang den Anschluss verlieren, so die Befürchtung. Oft wird in diesem Zusammenhang auf amerikanische Studien verwiesen, die Hinweise auf einen Bildungsrückstand durch einen langen Schulunterbruch («summer gap») liefern.
Stamm, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg, sagt: «Das Phänomen ist auch hierzulande relativ gut untersucht durch österreichische und deutsche Studien. Diese zeigen, dass bei gutem Unterricht Kinder die Rückstände zwar nach neun Wochen aufholen können, aber dann kommen schon wieder die Herbstferien.»
Eine Gefahr für die Chancengleichheit auch in der Schweiz? Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) sieht keinen Handlungsbedarf. Beat A. Schwendimann, Leiter Pädagogik beim LCH, sagt: «Die Sommerferien sind hierzulande verglichen mit den Nachbarländern eher kurz, vor allem in der Deutschschweiz. Die Diskussionen über zu lange Sommerferien wird vor allem in den Nachbarländern geführt, wo die Ferien deutlich länger sind.» Schulferien unterliegen wie die anderen Bildungsangelegenheiten der Hoheit der Kantone. Diese haben sich jedoch – mit Ausnahme des Tessins – einer Schuldauer von mindestens 38 Wochen pro Jahr verpflichtet, wodurch sich ein Maximum von 14 Ferienwochen ergibt.
Aus Sicht der Kinder wären vier bis fünf Wochen Schulpause im Sommer «genügend und gut», findet Erziehungswissenschaftlerin Tina Hascher.
Schwendimann sagt: «Die meist fünf bis sieben Wochen Sommerferien in der Schweiz sind ein historisch gewachsener Konsens, der nicht in erster Linie auf pädagogisch-wissenschaftlichen Überlegungen basiert.» Regionale Eigenheiten spielen ebenso eine Rolle wie wirtschaftliche Interessen. So begründete etwa der Tessiner Mitte-Nationalrat Marco Romano in der «Aargauer Zeitung» die zehn Wochen Sommerpause mit den höheren Temperaturen in seinem Heimatkanton. Touristische Gemeinden haben manchmal andere Ferienkalender als der Rest des Kantons, beispielsweise im Wallis. Und dass die Schulferien früher eng verknüpft waren mit dem landwirtschaftlichen Jahr – man gab den Kindern schulfrei, damit sie auf dem Hof mithelfen konnten –, zeigt sich nur schon am Umstand, dass noch heute manche Zürcher Gemeinden «Heuferien» statt Frühlingsferien kennen.
Tina Hascher, Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Bern, ordnet die amerikanischen Untersuchungen kritisch ein: «Der Sommerferieneffekt lässt sich aufgrund neuerer Reviews zu den Studien aus den USA nicht erhärten.» Es existiere «wenig systematisches Material, das zeigen könnte, wie sich Ferien und Dauer auf schulisches Lernen auswirken».
Die Erholungseffekte jedenfalls stellten sich bei Kindern ähnlich rasch wie bei Angestellten ein, also nach etwa zwei Wochen. Aus Sicht der Kinder wären vier bis fünf Wochen Schulpause im Sommer darum «genügend und gut», findet Hascher; auch der jährliche Feriensaldo könnte unter Umständen leicht verkürzt werden, wenn sich damit die Belastung während der Schulwochen reduzieren liesse. Entscheidend sei aber weniger die Dauer der Sommerferien – «ein, zwei Wochen mehr machen keinen grossen Unterschied». Vielmehr gehe es um die Frage, wie man die unterrichtsfreie Zeit ausfülle.
Neues Modell: Frei wählbare Ferien
Sollen denn Kinder nicht einfach mal vier, fünf Wochen nichts machen dürfen? Aber sicher, sagt Hascher, weil auch «nichts tun» äusserst lehrreich sein könne: «Kinder lernen unglaublich viel ausserhalb der Schule, in den Ferien etwa durch den Kontakt zu anderen Kindern oder beim Ausprobieren einer neuen Sprache. Auch in der persönlichen Entwicklung – Konfliktfähigkeit, Selbstständigkeit, Emotionsregulierung – können sie in den Sommerferien einen Entwicklungssprung machen.» Die Gestaltung der Schulferien sei deshalb zentral. Hier stehe der Staat in der Verantwortung, die Chancengleichheit zu gewährleisten. Hascher plädiert dafür, Eltern zu bilden, wie sie ihren Kindern eine anregende Lernumgebung schaffen, sowie Feriencamps anzubieten und die leeren Schulhäuser für Tagesstrukturen während der unterrichtsfreien Zeit zu öffnen.
Nochmals einen anderen Weg geht eine Schule in Dresden: Dort können Schülerinnen und Schüler einen Grossteil ihrer Ferientage individuell einziehen – in Blöcken von mindestens zwei Wochen. Die Kinder arbeiten in Projekten statt in Fächern, der Stundenplan wird alle sechs Wochen neu erstellt. Solche À-la-carte-Ferienmodelle bleiben auf absehbare Zeit wohl das Privileg einzelner Schulhäuser, für den Massenbetrieb Volksschule dürften sie aus finanziellen und organisatorischen Gründen kaum realisierbar sein.