Als der Dübendorfer Markus Studer seinen Chefarztposten aufgab und plötzlich als Lastwagenfahrer unterwegs war, stürzten sich die Medien aus der Schweiz und dem nahen Ausland auf den Mann.
Und er enttäuschte keine Redaktion. Ganze Kamerateams liess er in seinem Lkw auf seinen Transporttouren mitfahren. «Doktor Diesel» nannte ihn eine deutsche Zeitschrift danach.
Und alle stellten sie ihm immer wieder die gleiche Frage: Wieso gibt einer einen hervorragend bezahlten Job mit hohem Prestige für einen Beruf mit miesen Arbeitsbedingungen und schlechtem Image auf?
Studer scheint dieser Frage nicht im Geringsten überdrüssig zu sein. Ein weiteres Mal beantwortet sie der inzwischen 77-Jährige bei einem Treffen in einer Dübendorfer Pizzeria.
«Ich empfand meinen Horizont als Herzchirurg als unglaublich eingeschränkt. Es gab nur die Spitalwelt und nichts ausserhalb», sagt Studer.
Er war erst Oberarzt am Unispital Zürich und später Mitgründer des Zürcher Herzzentrums der Hirslanden-Gruppe. 70 bis 80 Stunden pro Woche arbeiten, dann am Wochenende Patienten besuchen, das war keine Seltenheit.
Die Verantwortung gegenüber den Patienten war hoch. «Privatleben und Hobby mussten hintanstehen.» Eine Familie mit drei Kindern konnte Studer gründen, weil seine Frau beruflich zurückgesteckt hat, wie er selber sagt.
Für Studer war klar: «Ich will vor 65 aufhören.» Das hat er dann auch im Alter von 57 getan. Seine Kollegen wussten bereits früh von seiner selbstbestimmten beruflichen Fallhöhe.
Lkw gekauft und Gas gegeben
Benzin, Gummi und Asphalt waren schon immer eine Leidenschaft von Studer. «Ursprünglich wollte ich Automobilingenieur werden.» Mit 15 habe er dann aber doch entschieden, Medizin zu studieren.
«Das Interesse für Vehikel mit vier Rädern ist jedoch immer geblieben.» Sein grösster Wunsch als Kind war es, einmal einen mächtigen Lastwagen zu fahren.
Innerhalb eines Jahrs hat er alle Prüfungen für grössere Vehikel inklusive Anhänger abgelegt, kaufte sich einen roten Mercedes-Lastwagen und transportierte fortan als selbständiger Unternehmer flüssige Lebensmittel wie Fruchtsäfte, Kakaomasse oder Speiseöl durch Mittel- und Südeuropa. «Das braucht weniger Muskelkraft beim Abladen als der Tarnsport von Feststoffen.»
Seine neue Arbeit brachte ihn nicht nur in neue Ecken Europas, sondern auch in andere Milieus. Wie Leute anderswo denken und ticken – dafür interessierte sich Studer.
«Ich bekam einen Einblick in ihre Arbeitseinstellung und ihr Leben. Die Unterschiede sind innerhalb Europas – ja sogar innerhalb einzelner Staaten – riesig.» Denn beim Auf- und Abladen der Waren sei man immer kurzzeitig ein Mitarbeiter der jeweiligen Firma.
Ärger über streikende Franzosen
Konfrontiert war Studer auch mit der Streikkultur der Franzosen. In einer Lindt-Fabrik haben die französischen Arbeiter einen Streik ausgerufen, nachdem ein neuer Direktor ein paar Änderungen hatte durchsetzen wollen. Für Studer hiess das damals: einen Tag warten mit Abladen.
Faule Sieche sind das, behandeln die Lastwagenfahrer grauenhaft abschätzig.
Auch in der französischen Hafenstadt Dünkirchen wurde Studers Geduld strapaziert. Statt wie abgemacht um 8 Uhr verladen zu können, wurde er zuerst weggeschickt. Nach einer Stunde kam er wieder, worauf ihn die Franzosen erst mal zum gemeinsamen Znüni einluden, was mindestens weitere 45 Minuten dauerte.
Letztlich habe er erst mit mehr als zwei Stunden Verspätung verladen können. «Es war jedes Mal das gleiche Theater.» Studer erzählt es und lacht.
«Für pflichtbewusste Schweizer ist eine solche Arbeitsmoral inakzeptabel. Ständig musste ich den Arbeitern Dampf machen.»
Noch schlimmer waren die Zöllner in Italien. Italienisch fluchen hatte er während seines Studentenjobs auf der Baustelle gelernt. «Für die Zöllner konnte ich das gut brauchen.
Faule Sieche sind das, behandeln die Lastwagenfahrer grauenhaft abschätzig.» Nur mit Fluchen habe er die Abwicklungen einigermassen beschleunigen können.
Mit Bankern in der Kabine
Eine ganz andere Meinung hat er von seinen europäischen Berufskollegen. Sehr interessante Typen habe er kennengelernt.
Dabei war Studer mit seinem Werdegang selber ein Faszinosum. Auch wenn er seine Geschichte nicht selbst erzählte, war sie bekannt. Dafür hatten ja die Medien gesorgt.
Carchauffeure sind die Weicheier mit Krawatte, die im Hotelzimmer übernachten.
Allein unterwegs war Studer nur selten. Die meiste Zeit begleitete ihn jemand. Anfangs seien es nur Kollegen und Bekannte gewesen. Bald darauf hat sich die Mitfahrgelegenheit herumgesprochen, auch wegen der Medienbeiträge.
«Plötzlich hatte ich Anfragen von Deutschen, Luxemburgern, Belgiern und Franzosen.» Die Mitfahrt habe er niemandem verweigert. Aus allen Gesellschafts- und Berufsschichten stammten seine Passagiere: Banker, CEOs oder Polizisten.
Die Verlockung, Studers Strassenabenteuer mitzuerleben, war gross. Auch seine Frau fuhr während fünf Tagen mit.
Und der Dübendorfer Chauffeur hatte endlich einmal Zeit für Gespräche während der Arbeit. «Als Chirurg blieb einem ausser einem kurzen Small Talk im Operationssaal nicht viel. Die Arbeit erforderte höchste Konzentration.»
Ende des Truckerabenteuers
Wer mit Studer mitfuhr, musste sich dessen Arbeitseifer anpassen und mit anpacken beim Auf- oder Abladen. Frühmorgens ging es jeweils los, und während andere Lkw-Fahrer umfangreiche Mittagspausen einlegten, schmierte sich Studer nur eben mal schnell ein Brötchen auf seinem Chauffeursessel.
Einzig die gesetzlichen Bestimmungen zu Ruhezeiten hielten ihn vom Durchfahren ab. Was schon zu seiner Zeit als Arzt galt, galt auch als Lkw-Chauffeur: «Ich habe immer gerne gearbeitet.»
1,2 Millionen Kilometer spulte Studer mit seinem Lkw ab – unfallfrei, wie er sagt. Rentiert habe es aber am Ende nicht mehr. «Die Transportpreise sind so tief gefallen, dass es sich für uns Schweizer nicht mehr gerechnet hat.»
Obwohl er sich als Arzt ein finanzielles Polster aufgebaut hatte, wollte er nicht zu Dumpingpreisen fahren, weshalb er sein Transportunternehmen schliesslich nach zehn Jahren aufgab und den Lastwagen verkaufte.
Als Weichei unterwegs
Die Lkw-Kabine hat er danach gegen ein Bus-Cockpit getauscht – und für ein Reiseunternehmen als Carfahrer angefangen.
Denn ein Ziel hatte Studer nach seiner Zeit als Trucker noch: Er wollte unbedingt in Skandinavien fahren. «Die Landschaft im Norden ist fantastisch.» Als Lastwagenfahrer blieben ihm Aufträge dorthin verwehrt.
Doch Carfahren hatte für ihn letztlich nicht den gleichen Reiz. «Lastwagenfahren war für mich das schönere Erlebnis. Dazu gehört auch, im Fahrzeug zu übernachten.» Die Lkw-Fahrer schauen zu Recht auf die Carchauffeure herab, sagt Studer. «Sie sind die Weicheier mit Krawatte, die im Hotelzimmer übernachten.»
Zu Fuss statt im Lkw
2014 hat Studer zum letzten Mal den Motor eines schweren Gefährts abgestellt. Und auch die Medien gönnten dem Dübendorfer die Pensionierung.
Heute bleibt Markus Studer mit Fitness und Joggen in Bewegung, wandert in der Umgebung oder entlang der Atlantikküste Frankreichs. Über seine Erlebnisse auf der Strasse hält er Vorträge, wie am 27. April in Dübendorf (siehe Box).
Aus seiner Zeit als Arzt erhält Studer heute noch Dankesschreiben oder Geschenke von Patienten. Doch von seiner Zeit als Lastwagenfahrer hat er etwas viel Wertvolleres bekommen: Seine Sehnsucht nach einem breiteren Horizont ist jetzt gestillt.
Vortrag in Dübendorf
Am 27. April um 15 Uhr hält Markus Studer seinen Vortrag «Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer» im Pfarreizentrum Leepünt. Der öffentliche Anlass findet im Zuge der Monatsversammlung des Jahrgängervereins Dübendorf statt. Weitere Informationen unter www.jgvduebendorf.ch.