Kurz nachdem der siebenjährige Samir mit seiner Familie aus Bagdad geflohen war, stand er in Dübendorf in einem Zimmer des Flugfeld-Schulhauses – verkleidet als Araber. Heute, gut 60 Jahre später, ist er europäischer gekleidet. Mit schwarzem Mantel, dunkler Hose und türkisfarbenem Schal steht er vor dem Bahnhof Dübendorf.
Es sei damals ein absurder Entscheid von ihm gewesen, zur Einweihung des neuen Schulhauses, zu der alle Kinder in frei wählbaren Kostümen hätten kommen dürfen, ausgerechnet als Araber zu erscheinen. «Sehr phantasievoll», sagt Samir und lacht.
Sein Besuch in Dübendorf ist nicht allein auf das Treffen für ein Interview mit dieser Zeitung zurückzuführen. Der Regisseur ist hier zum Arbeiten. Für seinen Dokumentarfilm «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer», der in diesem Jahr fertig werden soll, braucht er ein paar Videoaufnahmen aus Dübendorf. Dummerweise hat er die Speicherkarte für die Kamera vergessen. Vergeblich versucht er, am Bahnhofkiosk noch eine zu besorgen.
Dok-Film «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer»
In seinem neuen Dokumentarfilm widmet sich Samir der Schweiz der 1960er bis 1980er Jahre. Einer Zeit, als Hunderttausende Gastarbeiter in dieses Land kamen. Ausgehend von dieser Zeit, beleuchtet der Film den Zerfall der schweizerischen Arbeiterkultur und das Aufkommen eines latenten Rassismus, der seinen ersten Auftritt mit der Schwarzenbach-Initiative fand. Samir verwebt dabei die gesellschaftlichen Umwälzungen dieser Zeit mit seiner persönlichen Geschichte. Mithilfe von Animationen erzählt er etwa, wie er als Migrantenbub in Dübendorf aufwuchs. Weitere Infos zum Film unter www.working-class.ch.
Miesepetrig ist er deswegen nicht. Gut gelaunt plaudert er auf dem Weg ins Kino Orion, setzt sich an ein Tischchen und bestellt einen Kaffee. Alle seine Filme – es sind über 20 – seien hier gezeigt worden, sagt er. «Es gab immer eine Aufführung in Dübendorf.»
Das Orion und Samir kennen sich schon lange. Zur Bekanntschaft verholfen hat sein früherer Nachbar, der hier Filmvorführer war. «Wir Kinder durften mit ihm in die Vorführkabine, um den Film zu schauen.»
Inmitten militärischer Infrastruktur
Samir, mit bürgerlichem Namen eigentlich Samir Jamal Aldin, will von allen nur mit Vornamen angesprochen werden, der zugleich Künstlername ist. Schon viel zu häufig sei sein Nachname in der falschen Reihenfolge genannt oder publiziert worden. Jamal Aldin heisst «Schönheit der Religion». Kein passender Name für jemanden, dem die Religion eigentlich wurst ist, wie er selber sagt.
Meine Mutter hat plötzlich nicht mehr Arabisch mit mir gesprochen, sondern Schweizerdeutsch.
Samir Jamal Aldin
Regisseur und Filmemacher
Der Dok-Regisseur drängt zum Aufbruch – sein früheres Schulhaus will er auch noch sehen. In seinem Auto erzählt er von der Kindheit, und das in einem Tempo, als ob er seine gesamten Erlebnisse auf der 600 Meter langen Strecke loswerden müsste.
Da war die Flucht aus dem Irak 1963 wegen des Militärputschs. Und sein erster Eindruck von Dübendorf: «Hier ist alles kleiner.» Der Einzug in eine Genossenschaftswohnung an der Rotbuchstrasse, eingeklemmt zwischen Kaserne und Militärflugplatz. Am Morgen von 10 Uhr bis Mittag seien die Kampfflugzeuge gestartet, sagt er. Zuerst die Hunter, dann die Mirage. «Als Bub war ich fasziniert.» Allein fünf Flugzeugabstürze habe er in seiner Zeit in Dübendorf miterlebt.
Samirs Mutter stammt aus Gockhausen, deswegen suchte sich die Familie Dübendorf als Fluchtziel aus. Lange Zeit hat Samir nicht gewusst, dass seine Mutter aus der Schweiz stammt.
Fremdenfeindlichkeit ist für Samir ein emotionales Thema, wie ein Ausschnitt aus der SRF-Sendung «Arena» von 2017 zeigt. (Quelle: Youtube)
Die Migration in die Schweiz sei für sie seltsam gewesen. «Sie ist als Ausländerin in ihre ursprüngliche Heimat eingereist», sagt Samir. Denn zu der Zeit verlor eine Schweizerin, die einen Ausländer geheiratet hatte, das Bürgerrecht. Im Irak habe sie ein privilegiertes Leben geführt, weil sein Vater Ingenieur gewesen sei. Hier musste sie sich wieder als Arbeiterin behaupten.
Meine Schwester wurde oft auf dem Schulweg verhauen.
Den Umgang mit dem kleinen Samir hat die Mutter just beim Grenzübertritt in die Schweiz geändert. «Meine Mutter hat plötzlich nicht mehr Arabisch mit mir gesprochen, sondern Schweizerdeutsch.»
Sandkasten mit schlechter Erinnerung
Das Schulhaus Flugfeld sehe noch aus wie früher, findet Samir nach der Ankunft. «Nur der Baum war nicht so gross. Und die Kletterstange mit Sandkasten ist weg.»
Daran hat Samir üble Erinnerungen. «Im Sandkasten wurde ein italienischer Bub, der neu auf der Schule war, von mehreren Kindern brutal verprügelt.» Zuletzt hätten sie ihm noch Sand in den Mund gestopft. «Den Jungen habe ich nie mehr in der Schule gesehen.»
Ein verstörendes Erlebnis für ihn. «Ich bekam es mit der Angst zu tun, schliesslich war ich auch der Dunkle unter den Kindern. Anders als der italienische Bub hatte ich aber bereits Freunde und konnte mich gut wehren.»
Schlechter erging es seiner Schwester. Die Dunklere der drei Kinder sei oft auf dem Heimweg von den anderen verhauen worden, sagt Samir. Auch hätten Schulkinder ihn und seine Geschwister immer wieder als «Ausländer» beschimpft und ausgegrenzt.
Weil ein Teil seines Dok-Films mit Animationen dargestellt wird, will Samir heute zumindest ein paar Fotos machen, die der Produktionsfirma als Vorlage fürs Video dienen. Also tritt er unbeirrt mitten in den Schulhof und fotografiert zwischen einer Horde spielender Kinder die Umgebung.
Verleugnung der Herkunft
Danach steigt er wieder ins Auto, um seinen ehemaligen Schulweg abzufahren. Bei der Einfahrt zur Bergstrasse bremst er ab. Ob es die Bäckerei noch gibt? Nein. Danach ist er überrascht, dass die Alpenstrasse weiterhin Alpenstrasse heisst. Hier hätten früher die «Meh-Bessere» gewohnt, auch einer seiner Schulkollegen, mit dem er oft gespielt habe.
Vor lauter Reden merkt er nicht, dass hinter ihm schon drei Autos seinem Schleichtempo folgen. An seine Kindheit erinnert sich Samir gern. Dübendorf, damals dörflicher als heute, habe ihm beim Schweizerdeutsch-Lernen geholfen. «Grüezi» hier und da – er sei jeweils schnell in den Austausch mit anderen gekommen.
Dabei geholfen hat auch die Neugier der Anwohner. In seiner Kindheit habe es noch nicht viele Ausländer im Quartier gehabt, sagt Samir. Er fiel auf mit seinem schwarzen Haar und dem dunkleren Teint und wurde oft nach seiner Herkunft gefragt. «Ich bin Schweizer, meine Mutter ist Schweizerin», habe er geantwortet. «Natürlich stimmte das nicht ganz, aber als Kind wollte ich kein Aussenseiter sein.»
Begegnung mit Fremdenfeindlichkeit
In die Aussenseiterrolle fühlte er sich gedrängt, als die Schwarzenbach-Initiative lanciert wurde (siehe Box). 15 war Samir zu der Zeit. Ständig sei James Schwarzenbach in den Nachrichten gekommen.
Der Jugendfreund meiner Mutter mochte zwar keine Ausländer, aber dadurch erhielt sie wieder die Schweizer Staatsbürgerschaft.
Mit Galgenhumor hat die Familie auf den Vorstoss des Rechtspopulisten reagiert. Nun seien sie halt «die blöden Ausländer», die im Fall einer Annahme des Volksbegehrens ausgeschafft würden. «Uns blieb nichts anderes übrig, als darüber zu lachen.»
Aber eigentlich sei es grotesk gewesen: die Mutter, die als gebürtige Gockhauserin den Status einer Ausländerin habe, der Vater, der zwar eine dunklere Hautfarbe habe, aber fast perfekt Schweizerdeutsch spreche.
Die Schwarzenbach-Initiative
Der Zürcher Nationalrat James Schwarzenbach wurde durch die gleichnamige Volksinitiative bekannt, die 1970 zur Abstimmung kam. Der Parteiexponent der rechtspopulistischen Schweizer Demokraten wollte mit dem Begehren den Anteil der ausländischen Bevölkerung in jedem einzelnen Kanton ausser in Genf unter 10 Prozent halten. Das Schweizer Stimmvolk lehnte die Initiative letztlich mit 54 Prozent Nein-Stimmen ab.
Sein Vater hatte dann Mitte der 1970er Jahre genug vom Fremdenhass. Zu seinen Kindern habe er eines Tages gesagt: «Ihr seid nun gross, mich braucht es hier nicht mehr. Mich will man sowieso nicht hier haben, ich gehe.» Und so sei er wieder zurück in den Irak geflogen.
Die Mutter blieb hier und liess sich von Samirs Vater scheiden. Die beiden hätten sich auseinandergelebt. Kurz darauf heiratete seine Mutter ihren Jugendfreund aus dem Kanton Aargau. «Der mochte zwar keine Ausländer, aber dadurch erhielt meine Mutter wieder die Schweizer Staatsbürgerschaft. Und ich wurde dank der erleichterten Einbürgerung Aargauer», sagt Samir auf der Fahrt über die Stägenbuckstrasse.
Die Strasse war in seiner Schulzeit Ausgangspunkt der Schlittelpartien. Damals sei der Hügel noch grün und nicht mit Häusern zubetoniert gewesen.
Samirs Zuhause
In der Rotbuchstrasse angekommen, schaut sich Samir sogleich um. Das Gebäude mit der Hausnummer 6 hat die letzten Jahrzehnte überstanden, in denen in Dübendorf im grossen Massstab neu gebaut und verdichtet wurde. «Dort oben im dritten Stock war das Zimmer, das ich mit meinem Bruder geteilt habe. Aus unserem Fenster konnten wir die Kaserne sehen.»
Er läuft einmal ums Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Die Teppichstange fehlt genauso wie der Sandkasten, beides bereitete den Kindern Spielvergnügen. Vom mächtigen Baum neben dem Haus ist nur noch ein Stumpf übrig, und ausserdem war das Gebäude einst noch ohne Balkone und mit einer anderen Fassade ausgestattet. Ebenso verschwunden sind die Schrebergärten, wo Samirs Familie einst ihr Gemüse anpflanzte.
Samir liest die Namen neben den Türklingeln. «Kein Schweizer Name dabei», sagt er. «Das war noch anders, als wir hier gewohnt haben.»
Das Ende des Kosmos und Samirs Rolle
Gemeinsam mit dem Sphères-Gründer Bruno Deckert entwickelte Samir die Idee zum Kulturzentrum Kosmos, das 2017 in einem Neubau an der Zürcher Europaallee eröffnet wurde. 2019 zerstritten sich die zwei. Deckert verkaufte seine Anteile, Samir schied aus dem Verwaltungsrat des Kosmos aus.
Ende 2022 ging das Kosmos in Konkurs. Samir beteuert, zu jener Zeit nichts mehr mit dem Kosmos zu tun gehabt zu haben. Bruno Deckert sieht das in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» anders. Aus seiner Sicht hat Samir noch nach seinem Ausstieg Einfluss auf das Kulturhaus ausgeübt. So habe er seinen Wunschverwaltungsrat zusammengestellt und damit den Niedergang des Kosmos eingeläutet.